Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

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Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов

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Damit hat Science Fiction, wenn sie es richtig macht, vielleicht literarisch eine ungeahnte Bandbreite an Möglichkeiten, die nur darauf wartet, genutzt zu werden.

      Schubladen fürs Denken

      Die obersten Kategorien für Menschen sind »männlich« und »weiblich«. Das ist als vermeintlich neutraler Fakt in unseren Köpfen verankert, und beim Entwerfen einer Romanfigur stellt sich Schreibenden zuallererst die Frage: Ist meine Figur weiblich oder männlich? Unsere Gesellschaft sagt uns seit Tausenden von Jahren, dass das die beiden möglichen Kategorien sind. Alles darüber hinaus, selbst wenn es soziologisch, biologisch und psychologisch unterfüttert wird, macht vielen von uns schlichtweg in seiner Komplexität Angst. Und nicht nur das: Das Konstrukt von einem fundamentalen und augenscheinlichen Unterschied zwischen den beiden als einzig »gültig« angesehenen Geschlechtern ist ein Narrativ, das dazu dient, eine der einfachsten Hierarchien in unserer Gesellschaft und unserer Geschichte zu zementieren. Wenn es zwei Geschlechter gibt und diese fundamental und angeboren verschieden sind, müssen sich auch ihre Aufgaben in der Gesellschaft klar unterscheiden. Die einen bekommen die Kinder, die anderen bekämpfen den Säbelzahntiger, so lautet die Geschichte, die wir uns erzählen. Bestrebungen, etwas anderes als das sichtbar zu machen, bedrohen diese Erzählung. Sie erschweren es, eine Machtposition aufrechtzuerhalten und auszuüben.

      Diese Geschichte versucht in all ihren Aspekten, sich auf vermeintliche Natürlichkeit zu stützen. Wer hat welche Chromosomen? Wer hat welche Reproduktionsorgane? Eine Einteilung in männlich und weiblich – so wird uns gesagt – ist der natürliche Urzustand. Auf dieser Basis ziehen wir gefährliche Schlüsse: Diesen Status quo infrage zu stellen, ist ein Aufbegehren gegen die menschliche Natur. Es ist künstlich, unnatürlich, vielleicht sogar ein »Hype«. Aber was, wenn dieser Status quo gar nicht der natürliche Urzustand ist, sondern einfach nur eine besonders erfolgreiche Erzählung?

      Es ist uns als Mitteleuropäer*innen mit unserem Weltbild, unserer Geschichte, unserer Kultur und Gesellschaft fremd, sprachlich wie gesellschaftlich, uns gedanklich von den beiden Oberkategorien zu entfernen, neue Schubladen dazuzuschrauben oder die Schubladen zu durchlässigen und ineinander übergehenden Körben zu verflechten. Es ist eine kreative Leistung, nach all diesen Jahren, Jahrhunderten, Jahrtausenden, in denen Geschlecht binär gedacht wurde, diese Gedanken zu erweitern. Es ist beinahe schon Science Fiction.

      Und genau diese Science Fiction gibt uns die Möglichkeit, uns über das Fiktive, das ganz Fremde – Aliens, KIs, Roboter – einer Vielfalt der Geschlechtsidentitäten anzunähern. Aber danach müssen wir einen weiteren Schritt unternehmen: Nichtbinäre Geschlechter, Genderfluidität, Ungeschlechtlichkeit, das große Spektrum jenseits und zwischen männlich und weiblich, muss von Aliens, KIs, Robotern wieder zu menschlichen Figuren finden. Zu Hauptfiguren am besten. Und von dort aus in unsere Sprache und unsere Realität. Denn dort gibt es uns längst.

      Doing Gender

      Geschlecht ist eine komplexe Sache, und im Rahmen dieses Essays kann ich nur einen kurzen Exkurs in die Thematik unternehmen. In unserem mitteleuropäischen Sozialgefüge hat sich seit Jahrtausenden die binäre Teilung in zwei Geschlechter etabliert. Die erste Aussage, die über uns getroffen wird, während wir noch um unseren ersten Atemzug ringen, ordnet uns nach sichtbaren Geschlechtsorganen in Mädchen und Jungs. Würde daraus keine weitere gesellschaftliche Zuordnung entstehen, wäre eine Aussage über die mutmaßliche zukünftige Variante der Reproduktionsfähigkeit vermutlich halbwegs unproblematisch. Aber die Hierarchie zwischen Mann und Frau ist nach wie vor im Gesellschaftlichen, Alltäglichen, Politischen, in der Kunst und allen anderen Bereichen wirkmächtig. Aus dieser ersten Aussage wird Aussage um Aussage geschlussfolgert – zu allen möglichen Formen von Befähigung und Beteiligung.

      Es gibt und gab immer schon Länder, Kulturen, Regionen und Gesellschaften, die weitere Geschlechter und Geschlechtsidentitäten kennen, mehr Fluidität zulassen oder andere Positionen auf den Breitengraden zwischen den Polen »männlich« und »weiblich« benennen. Viele Kulturen weisen trans Frauen eine dritte Geschlechterkategorie zu (beispielsweise in Nepal, im Oman und auf den Philippinen). Manche Bezeichnungen beziehen sich auf angeborene Geschlechtsidentität, andere auf zugewiesene Geschlechterrollen, wenn beispielsweise eine Frau das verstorbene männliche Familienoberhaupt ersetzen soll oder als einziger »Sohn« großgezogen wird (z. B. in Afghanistan und Albanien).

      Aber die mitteleuropäische Kultur, ihr binäres Weltbild und die damit verbundene Hierarchie sowie die als »natürlich« und angeboren angenommenen Unterschiede in der Wesensart sind dank Kulturimperialismus und Kolonialismus in die ganze Welt exportiert worden, und so sehen wir weltweit auch in der Fiktion vor allen Dingen Frauen und Männer als Hauptfiguren in Geschichten. Hinweise auf die Existenz von trans Menschen und genderqueeren Menschen, also Menschen, deren Geschlecht nicht mit dem übereinstimmt, was ihnen bei der Geburt anhand eines Blicks auf ihre Geschlechtsorgane zugewiesen wurde, gibt es natürlich durch die ganze aufgezeichnete Geschichte hindurch.

      Die Wissenschaft fing im 19. Jahrhundert an, sich mit queerer Sexualität zu befassen, und stieß früh darauf, dass sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität verschiedene Paar Schuhe sind, die eine ungeahnte Vielfalt an Kombinationen zulassen. Schon Anfang des letzten Jahrhunderts hat Magnus Hirschfeld umfassend zu Geschlechterrollen, Geschlechtsidentitäten und von ihm so genannten »Geschlechtscharakteren« geforscht – Merkmalen, die queere oder hetero Sexualität, queeres oder cis-Gender ausmachen. Die Forschungen des jüdischen, homosexuellen Wissenschaftlers wurden zwei Wochen nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten zerstört. Damit wurden Jahrzehnte der intensiven, internationalen Forschung an queerer Sexualität und Trans*geschlechtlichkeit wieder ausradiert. Jahrzehntelang ging es jetzt wieder darum zu beweisen, dass zur menschlichen Varianz und Vielfalt gehört, dass nicht alle Menschen mit dem Geschlecht, das ihnen zugeordnet wurde, korrekt beschrieben werden.

      Immer noch obskur

      Nach wie vor ist vielen Menschen die Vorstellung von Geschlecht und Identität außerhalb der »Gender-Binarys« nicht geheuer. Die Einführung eines diversen, auch »dritte Option« genannten Geschlechtseintrags wurde 2018 in Deutschland beschlossen. Leider bedeutet er bislang alles andere als eine rechtliche Gleichstellung oder gar die selbstbestimmte Definition des eigenen Geschlechts. Es gibt ihn vor allen Dingen, damit Eltern sich bei inter* Kindern nicht sofort nach der Geburt für ein binäres Geschlecht entscheiden müssen, wie es vor der Gesetzesänderung der Fall war. Es geht also explizit nicht darum, Menschen mehr Vielfalt zuzugestehen, als an ihren Geschlechtsorganen zu erkennen ist. Und in den Köpfen angekommen ist das sogenannte »dritte Geschlecht« (das es ja zudem wegen der Vielfältigkeit und des Spektrums menschlicher Geschlechter gar nicht als abschließende Zahl geben kann) nicht. Wie auch? Das gesellschaftliche Narrativ hat unsere Sprache und unser Leben um Zweigeschlechtlichkeit herum organisiert: Öffentliche Toiletten, Kleidung, Spielzeug, Konsumartikel in allen Varianten – sogar die Farbe der Scheren, mit denen die Nabelschnur eines Säugling in manchen Geburtszimmern durchtrennt werden, sind binär aufgeteilt.

      Darüber, was diese Einteilung mit uns macht, welche einem Geschlecht zugewiesenen Eigenschaften wir höher schätzen und wie wir Frauen und Männer, Mädchen und Jungen gleichstellen können, wird an vielen Stellen geredet, innerhalb und außerhalb feministischer Kontexte. Doch diese Diskussionen können nur dann zu tatsächlicher Gerechtigkeit führen, wenn sie auch die bislang unsichtbaren, an den Rand gedrängten Geschlechter mitdenken, mitmeinen und mit aussprechen. Selbst Feminist*innen beäugen jedoch die, die bislang kaum irgendwo dazugehören, misstrauisch. Die SF-Rollenspielautorin Avery Alder nennt das Zugehörigkeitsgefühl, das sich aus einer solchen gesamtgesellschaftlichen Unsichtbarkeit entwickelt, »Belonging outside belonging« (»zu etwas gehören, was nirgendwohin gehört«).

      Und wegen dieses An-den-Rand-Drängens von nichtbinären Menschen führt auch der Weg ihrer Repräsentation in der Science-Fiction-Literatur über das »Andere«, das »Outside Belonging«.

      Das Nichtbinäre als das Fremde

      Fantasy

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