Das Science Fiction Jahr 2020. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов страница 9

Das Science Fiction Jahr 2020 - Группа авторов

Скачать книгу

wieder neu geführtes Nachdenken über und Definieren der eigenen Sexualität, Genderidentität und auch Körperlichkeit. Körperliche oder soziale Dysphorie, also das Gefühl von Unwohlsein mit dem eigenen Körper oder der von anderen auferlegten Geschlechterrolle, ist etwas, was vor allem trans und nicht binäre Personen (aber auch andere queere Menschen) kennen. Auf drastische Weise wird dies z. B. im Horror-Computerspiel The Missing thematisiert. Die Protagonistin J. J. kommt dem Ziel, ihre Freundin zu retten, nur näher, indem sie ihren eigenen Körper auf verschiedenste Weise verstümmelt, auseinanderreißt und als Werkzeug einsetzt, was sich im Verlauf des Spiels als Metapher für ihre (nicht geoutete) trans Identität herausstellt. Auch wenn Geschichten über queeren Schmerz immer vorsichtig betrachtet werden sollten, da zu oft queere Personen nur über ihre Identität und das Leiden darunter dargestellt werden, kann eine solche Umsetzung Aussagen über den Kampf treffen, den queere Menschen ausfechten müssen. Ein Review zum Spiel von Julie Muncy fasst es so zusammen: »Es geht um das dauerhafte Spielen einer Rolle, die nicht deine ist. Um den Schrecken, von deinem Umfeld nicht als ›männlich genug‹ angesehen zu werden. Um den stummen Schmerz, wenn deine Eltern und Freund*innen unsensible oder noch schlimmere Kommentare über die Art von Person machen, die du im Geheimen bist. Es ist der Schmerz von Geheimnissen, von systematischer Unterdrückung, von einer Gesellschaft, die etwas dagegen hat, dass du die Wahrheit über dich herausfindest.«

      Ebenso wichtig wie Geschichten über den schmerzlichen Kampf mit der eigenen Identität sind solche, in denen die Suche nach ihr erfolgreich ist und in der die Grenzen der Erwartungen der Gesellschaft gesprengt werden können. Auch wenn es nicht direkt um queere Figuren geht, darf hier wohl die Serie Westworld genannt werden, in der es immer wieder darum geht, wie vor allem weibliche Figuren gegen die ihnen zugedachten Rollen rebellieren. Ein weiteres Beispiel ist der zweite Teil der WAYFARER-Trilogie von Becky Chambers, A Closed and Common Orbit (dt. Zwischen zwei Sternen), in dem eine KI und ein geklontes Mädchen versuchen herauszufinden, wer sie sind und wer sie sein wollen.

      Die Akzeptanz des Andersseins

      Im Weltenbau aus queerfeministischer Perspektive liegt eine große Chance darin, Gesellschaft anders zu denken, das Anderssein zu akzeptieren und anzunehmen und Eigenschaften positiv herauszustellen, die in unserer patriarchal-heteronormativen Gesellschaft abgewertet werden. Oft geht es in fiktiven Science-Fiction-Welten nur darum, wie sich diese technisch, biologisch oder physikalisch von unserer unterscheiden, während das Neu-Denken von Zusammenleben, Geschlechterrollen, Sexualität und Gesellschaftsstrukturen eine sekundäre Rolle spielt und reale Gegebenheiten nicht hinterfragt und übernommen werden. Eine wichtige Rolle beim Entwerfen einer im Grundsatz queeren Gesellschaft spielt der Gedanke, dass alle Personen mit ihren Eigenheiten, besonderen Stärken und Schwächen, ihrem Anderssein und ihren Absurditäten willkommen und wichtig sind. Dies gilt nicht nur für Queerness, sondern auch für körperliche und neurologisch-psychische Abweichungen von der Norm. So entwerfen beispielsweise Judith und Christian Vogt in ihrem Roman Wasteland eine Gemeinschaft, in der neurodiverse Personen (wie beispielsweise der bipolare Protagonist) ihren Platz finden und akzeptiert werden, ohne dafür ihr Anderssein durch Medikamente der Mehrheit anpassen zu müssen. Auch die Vorstellung der Kleinfamilie wird in diesem Roman aufgebrochen (beispielsweise durch drei in einer polyamoren Beziehung lebende Frauen, die gemeinsam eine große Gruppe von Enkeln erziehen), ebenso wie im dritten Band der WAYFARER-Reihe Unter uns die Nacht von Chambers, in der menschliche Siedelnde auf einem anderen Planeten in Kleinsteinheiten leben, die anarchistisch anmuten und gemeinsam über ihre Belange entscheiden. Auch Sexarbeit wird in diesem Buch positiv und ohne Stigma dargestellt.

      Einen anderen wichtigen Aspekt greift Octavia Butler in Die Parabel vom Sämann auf, in der die Besonderheit der Protagonistin Lauren in ihrer Hyperempathie liegt. Erst durch ihre, in unserer Gesellschaft als zutiefst feminin angesehene Fähigkeit, das Leid anderer Menschen mitzufühlen und als das eigene zu empfinden, wird Lauren dazu angetrieben, eine eigene Gemeinschaft zu gründen und den Weg zu einem neuen und besseren Leben zu suchen. Auch die schon erwähnte MADDADDAM-Trilogie von Margaret Atwood stellt die Gardeners, die mit Recycling, Pflanzenzucht und Imkerei ihre Lebensgrundlage in einer postapokalyptischen Welt schaffen, als eine Community dar, deren Stärke und Überleben von weiblich konnotierten Tätigkeiten abhängt. Auch in der aktuellen Situation der Corvid19-Pandemie zeigt sich, dass große und weltumstürzende Krisen nicht immer von einer einzelnen Held*innenfigur gelöst werden können, wie Laurie Penny in ihrem Artikel This is not the Apocalypse you were looking for feststellt. »Die Leute in der ersten Reihe sind keine Kämpfer*innen. Sie heilen und pflegen. Genau die Leute, deren Arbeit kaum einmal angemessen bezahlt wird, sind diejenigen, die wir wirklich brauchen, wenn es richtig schlimm aussieht. Pflegekräfte, Ärzt*innen, Reinigungskräfte, Fahrer*innen. Emotionale und häusliche Arbeit waren nie Teil der großartigen Geschichte, die Männer sich gegenseitig über das Schicksal der Menschheit erzählt haben – nicht einmal, wenn sie sich deren Untergang ausmalten.«

      Als letzten Aspekt queerer Erzählungen möchte ich noch kurz auf die verwendete Sprache selbst eingehen. Das erste Neopronomen, das ich jemals las, stand nicht in einem Sachtext zum Thema Grammatik oder Nicht-Binärität, sondern in einem Roman, in dem eine nicht-binäre Figur vorkam. Science-Fiction-Geschichten können auch durch die sprachliche Komponente queere Inhalte transportieren. Wenn es geschlechtsneutrale Begriffe und Neopronomen gibt, sich Figuren einander mit ihren Pronomen vorstellen und auf abwertende Sprache gegenüber queeren Personen und anderen Marginalisierten verzichtet wird, wirkt sich dies nicht nur auf die Erzählung, sondern auch auf die Lesenden aus. Je mehr Perspektiven und Identitäten mitgedacht und berücksichtigt werden, desto mehr kann eine fiktive Geschichte auch in der Realität für mehr Akzeptanz und Rücksicht sorgen.

      Jenseits der Fiktion

      Zum Abschluss des Artikels möchte ich noch einmal auf die Heldenreise eingehen und behaupten, dass diese sich nicht nur in Geschichten, sondern auch in unserem Umgang damit fest verankert hat. Ein Buch verkauft sich besser, wenn ein Aufkleber verkündet, wie viele Wochen es schon auf der Bestsellerliste ist. Wenn wir auf Netflix eine Serie starten, sehen wir automatisch, welchen Platz sie im bundesweiten Ranking gerade hat. Filme werden noch einmal neu ins Kino gebracht, wenn damit der Rekord der meistverkauften Kinotickets gebrochen werden kann. Literaturpreise und Film-Awards sind bestimmt vom Gedanken an ein Siegertreppchen, einen Rekord, einen neuen Helden oder wenigstens eine neue Heldin. Gleichzeitig werden Inhalte, die umsonst verfügbar sind und die Mitglieder einer Community füreinander erschaffen und miteinander teilen – wie Fanfiction in unterschiedlichsten Formen, kostenlose Geschichten, Comics oder ganz andere Erzählformate – noch immer als minderwertig oder schräg angesehen. Dabei finden sich gerade dort oft Inhalte, die neue Wege gehen und die Stimmen marginalisierter Personen hörbar werden lassen.

      Wo sind die Preisverleihungen für die Verlagsleiter*innen, die sich um ein diverses Programm bemühen? Für die Showrunner*innen, die darauf achten, dass im Writers Room und im Regiestuhl nicht nur weiße cis Hetero-Männer Platz nehmen? Für die Community-Organisator*innen, die darauf achten, dass sich alle wohl und sicher fühlen? Noch immer ist eine diverse und einander unterstützende Gemeinschaft weniger wert als die einzelne herausragende Person, und das ist deshalb eine zutiefst heteronormative Sichtweise, weil nicht-queere Personen eine Gemeinschaft, in der man sich wohlfühlt und akzeptiert wird, als selbstverständlich wahrnehmen.

      Wenn wir also wollen, dass unsere Erzählungen diverser, queerer und inklusiver werden, müssen wir nicht die Fiktion selbst queer denken, sondern auch alle äußeren Umstände, die mit ihr einhergehen.

      Joachim Körber

      Wann ist ein Mann ein Mann?

      Kurze Geschichte einer Verunsicherung

      »Wann ist ein Mann ein Mann?« Diese Frage stellte 1984 der Schauspieler und Sänger Herbert Grönemeyer in seinem Song »Männer«. Darin verteidigte er teils recht brachial einen Männertypus, den viele, nicht nur Frauen, als Relikt der patriarchalischen Gesellschaft längst für überholt hielten, den Mann, der »wie blöde«

Скачать книгу