The Who - Maximum Rock I. Christoph Geisselhart
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Als Keith zur ersten Probe in seinem Goldlamé-Anzug aufkreuzte, blieb den vier Älteren die Spucke weg. Schon ihre Anzüge kamen ihnen ein wenig dick aufgetragen vor; aber gegen das Männlein im goldenen Gewand verblasste alles.
Wenn man sich Gruppenfotos anschaut, wird sofort klar, warum Keith, der Kleinste und Jüngste, der Neue und zudem auf der Bühne immer der Hinterste, der zwischen Trommeln und Becken kaum sichtbar war, warum „Wease“, wie ihn fortan seine Bandkollegen nur noch nannten, keine Scheu zeigte, diesen unmöglichen güldenen Anzug mit Stolz und Begeisterung zu tragen. Es war einfach die beste und augenfälligste Lösung, sich von allen abzuheben und immer und überall, wo The Beachcombers auftraten, unter Garantie zum Mittelpunkt des Geschehens zu werden.
Da Keith diesen Anspruch natürlich auch abseits der Bühne erfüllen wollte, durften sich die Beachcombers, ähnlich wie zuvor die Escorts und die Strangers, über die verrückteste Zeit ihres Lebens freuen.
Zu Keiths wirkungsvollsten Streichen gehörten die Auftritte im Bauch eines Kulissenpferds. Keith hatte das lebensgroße und sehr echt aussehende Bühnentier aus Pappmaché nach einem Auftritt in der Wembley Arena umgehend adoptiert. Er kletterte hinein und trottete auf die Straße, um in einen Doppeldeckerbus einzusteigen, was der Fahrer gerade noch verhindern konnte, obwohl Keith mit Recht und zum Vergnügen der Passagiere darauf bestand, dass nirgendwo geschrieben stehe, Pferden sei der Zutritt verboten.
Fortan tauchte das Pferd so ziemlich überall auf, wo die Beachcombers spielten, allerdings nie auf der Bühne. Nach der Show in Restaurants, im Offiziersklub des US-Stützpunkts, bei Partys, in Büros von Touragenten – keiner war davor gefeit, mit einem menschlichen Pferd Bekanntschaft zu machen, sobald er in die Nähe der Band geriet.
Nachdem sie einmal bei einer Probe für die BBC-Radioshow Saturday Club durchgefallen waren und ihre Ausrüstung deprimiert zusammenpackten, schrie Keith: „Das Pferd!“ Und alle folgten ihm, der als Führer im Bauch eines wandelnden Theaterbilds voranging, zunächst zum Langham Hotel, wo das künstliche Huftier erfolglos um ein Zimmer bat, dann weiter zu den öffentlichen Toiletten, zwischen pinkelnden Gentlemen hindurch, und bis hin zum Piccadilly Circus, wo sich die Touristen in ihrer Erwartung, exzentrische Engländer zu erleben, zweifelsohne bestätigt fühlen durften …
„Wenn er in diesem Ding steckte“, erinnert sich John Schollar, „war er nicht mehr Keith Moon. Er verhielt sich dann wie ein Pferd.“
Keith, der Schauspieler und Komödiant, war, im Gegensatz zu Keith, dem Trommler, tatsächlich ein reines Naturtalent. Für diese Art von Auftritten brauchte er nichts, was er nicht schon besaß: Witz, Mut, Lust an der Zuschaustellung und Neugier auf die Reaktionen anderer. Für einen ebenso selbstbewussten und wirkungsvollen Musiker fehlte ihm vor allem noch Erfahrung, die regelmäßige Praxis unter den harten Bedingungen des Londoner Nachtlebens. Seine Zeit mit den Beachcombers gab ihm dazu reichlich Gelegenheit.
Ihre erste Show war ein Engagement als Vorgruppe von Cliff Bennett & The Rebel Rousers, die Ex-Band seines Vorgängers Ricky Winters, im gut eingeführten Fender Club von Kenton. Angesichts der nicht einfachen Premiere fürchteten die anderen, dass Keith den beim Vorspielen bewiesenen Mut auf der Bühne vermissen lassen könnte; doch weit gefehlt. „Wir dürfen uns nicht zurücknehmen, bloß weil wir die Vorgruppe sind“ wies er seine erfahrenen Kollegen an. „Wir müssen hier alles geben. Wir müssen Eindruck hinterlassen.“ Und so spielte er dann auch.
Der Erfolg gab ihm Recht. Das Publikum begann über den wilden Knaben hinter den Trommeln zu sprechen, kaum dass der Vorhang aufgegangen war. Schon nach dieser ersten Vorstellung kamen Leute zum nächsten Gig, nur um zu sehen, wie dieser in Gold gehüllte Knirps sein Schlagzeug verprügelte.
Keith schlug von Anfang an härter, spektakulärer, ungewöhnlicher und rücksichtsloser auf seine Felle und Becken ein als alle anderen Drummer im Tourzirkus des Bob Druce. Seine Arme wirbelten wie nimmermüde Propeller über das silberblaue Premier, während er Grimmassen schnitt und wie ein Fechter in die Luft stieß, und unablässig wuchtete sein kleiner Fuß den gepolsterten Schlegel der Fußmaschine gegen die ächzende Membran der Basstrommel.
Für seine neuen Mitmusiker war der unberechenbare Bühnensturm, der hinter ihnen mit ersten Note losbrach, nicht ganz einfach zu verdauen. Keith hatte in seine Becken zusätzlich lose Nieten eingearbeitet, die bei jedem Schlag sirrten und giftig nachschepperten, was vor allem den Sänger in der Ausübung seiner Kunst stark behinderte.
Ron Chenery war ein Vokalist der alten Fünfzigerjahreschule. Er genoss es, bei sanften Balladen im Rampenlicht zu stehen und die Herzen der anwesenden Mädchen für ein späteres Stelldichein zu erweichen. Dieses Vorhaben versuchte Keith zu torpedieren. Er wollte selbst der Star der Band sein, und Ron musste zunehmend akzeptieren, dass er das auch wurde. Die kreischenden Girls der Sechziger wollten keinen vierundzwanzigjährigen Ingenieur mehr zum Objekt ihrer romantischen Verehrung. Aber ein verrückter, süßer Bengel, der offenbar nur Schlagzeugspielen, auffällige Klamotten und Blödsinn hinter seinen großen Haselmausaugen im Sinn hatte, der sollte doch offensichtlich keine Schwierigkeiten haben, die Mädchen wie reife Trauben zu pflücken.
Von wegen, das Gegenteil war der Fall. Keith war furchtbar schüchtern und hatte, weit von seinem Surferideal – „two girls for every boy“ – entfernt, noch nicht einmal eine Freundin gehabt. Er nahm nach wie vor keine Drogen, kannte keinen Brandy und rauchte nur, um anzugeben.
Vielleicht war die Zeit mit Ron, Norman, Tony und John aus diesem Grund die schönste seines Lebens – nahe an der Erfüllung, mit noch viel Spielraum nach oben, aber ohne die unkontrollierbaren Abgründe, die zehrenden, lastenden, ihn letztlich verschlingenden dunklen Tiefen des Ruhms. In seinem Ideal sah es wohl so aus, dass man die Drogen, den Alkohol und den Sex leichthin beherrschte und sich ihren lichten, das Musikerleben zusätzlich verschönernden Wirkungen freudig hingab, um anderntags genauso unbeschwert weitermachen zu können.
Abhängigkeit, die Not, sich bei Bedarf schnell auf volle Leistung bringen zu müssen, danach nicht schlafen zu können, es sei denn mit Tabletten, um am nächsten Morgen mit bleiernem Kopf aus dem Hotel zu taumeln, keine andere Hilfe greifbar als die kleinen, bunten Aufputschpillen in der Blechdose, um sich wieder in Form für den nächsten Auftritt zu bringen – all das kannte er noch nicht. Davor stand sein sonniger Tagtraum, dass es Genusssucht ohne Strafe gab, Ruhm ohne Preis, Hemmungslosigkeit ohne Reue. Allein das Schlagzeug und die Band sollten ihn zur Erfüllung führen; alles andere war nebensächlich. Keith glaubte an sich, und er glaubte an Ron, Norman, Tony und John, die ihn in seiner Entwicklung weiter voranbrachten als alle Bands zuvor.
Dass umgekehrt auch The Beachcombers von Keiths Einfluss profitierten, beweist man am leichtesten, indem man jene zitiert, die eigentlich auf ihn schimpfen müssten, nachdem er sie verlassen hatte. Aber noch heute schwärmen die ehemaligen Bandkollegen von ihrer Zeit mit Keith, die vielleicht nicht einfach, aber einfach die aufregendste in ihrem Leben gewesen war.
„Er unternahm natürlich alles, um im Mittelpunkt zu stehen“, sagt Norman, dessen technisch anspruchsvolle Soli unter dem nachhaltig vibrierenden Echo der genieteten Becken mehr als einmal einen stillen Tod starben. „Er wollte auffallen und war sehr extrovertiert, aber man konnte ihm das nicht übelnehmen. Er arbeitete sehr hart daran, ein Entertainer zu werden. Viele Leute kamen bloß wegen ihm. Andere hielten ihn für einen aufgeblasenen Wicht, der sich für den Größen hält. Aber man musste so sein, wenn man weiterkommen wollte. Er kapierte das, und er hatte den Mut, es zu zeigen.“
Kurz nach seinem ersten Auftritt druckte Keith auf seine Basstrommel einen kühnen Schriftzug: „I am the Greatest“.