Mischpoche. Andreas Pittler
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Strakosch verzichtete darauf, die Frage Bronsteins einer inhaltlichen Bewertung zu unterziehen, denn der gehetzte Tonfall seines Gesprächspartners überzeugte ihn davon, dass diesem an der Beantwortung seiner Frage mehr gelegen war als an allfälligen verbalen Geplänkeln. »Ich kann dich beruhigen, so eine ist nicht darunter. Und jung waren überhaupt nur zwei Männer …«
»Und die Verwundeten? Wohin wurden die gebracht?«
»Du, das weiß ich jetzt aber wirklich nicht. Die werden s’ wahrscheinlich auf die diversen Spitäler aufgeteilt haben, nehme ich an. Aber warum …«
»Du, Ferdinand, keine Zeit für Erklärungen. Ich sag’ dir alles, wenn ich wieder einen Überblick hab’. Bis dahin sag’ ich einfach nur danke.«
In den nächsten Stunden hätten Mörder gute Chancen gehabt, mit ihren Verbrechen davonzukommen, denn Bronstein tat nichts anderes, als in sämtlichen Wiener Krankenhäusern nach der Identität der dort eingelieferten Verletzten zu fahnden. Gegen 8 Uhr abends wusste er die Namen von 72 Demonstranten, die sich immer noch in der Obhut eines Spitals befanden. Die übrigen, hieß es, seien nicht so schwer verletzt gewesen, sodass sie in der Zwischenzeit entlassen werden konnten. In polizeilichem Gewahrsam, so hatte er weiter in Erfahrung gebracht, befand sich niemand von denjenigen, die an den Aktionen rund um den 15. Juni teilgenommen hatten. Doch angesichts der Bilanz konnte man wohl davon ausgehen, dass die Sicherheitskräfte von Anfang an die Order ›Keine Gefangenen‹ ausgegeben hatten. Bronstein wusste nicht, ob er nun aufatmen sollte oder nicht. Jelka war weder unter den amtlich festgestellten Toten noch unter den Verwundeten. Allerdings war anzunehmen, dass sie nach einem solchen Massaker kaum nach Hause gegangen war. Wo also sollte er sie suchen?
»Ich weiß, Chef, warum du so dreinschaust«, hörte er plötzlich Pokorny sagen, der, ungeachtet der späten Stunde, noch einmal ins Büro gekommen war. »Aber keine neue Welt wird ohne Schmerzen geboren. Solche Eruptionen gehören halt dazu. Wirst sehen, das wird sich alles einspielen, und dann geht keiner mehr auf den anderen los, dann verläuft wieder alles in geordneten Bahnen.«
Bronstein war nahe dran, Pokorny sein Herz auszuschütten und ihm zu gestehen, dass es ihm nicht um die fragwürdigen Geburtswehen der Republik, sondern nur um seine Jelka ging, doch er schreckte schließlich doch davor zurück.
»Na siehst«, deutete Pokorny Bronsteins Schweigen als Zustimmung zu seinen Thesen, »es wird wieder aufwärts gehen. Jetzt kommen andere Zeiten, in die wir mit Optimismus schreiten.«
»Pokorny, deine Reime überzeugen mich nicht unbedingt. Aber schreiten werd’ ich jetzt auch, und zwar nach Haus’.«
Die ganze Nacht über machte Bronstein kein Auge zu. Unentwegt dachte er an Jelka. Es mochte ja sein, dass die neue Zeit endlich Frieden, Wohlstand und Freiheit brachte, doch ihm wäre es weit wichtiger gewesen, sie hätte ihm Jelka gebracht. In den folgenden Tagen recherchierte er während der Dienstzeit eifrig alle Berichte, die zum vermeintlichen Kommunistenputsch eingelangt waren, stets auf der Suche nach einem Hinweis auf Jelka, während er nach Dienstschluss jeden Ort aufsuchte, an dem Jelka schon einmal gewesen war. Beide Tätigkeiten brachten ihn seinem Ziel keinen Millimeter näher. Und während sich die Kollegen in Elogen auf die Republik ergingen, wurde Bronstein mit jeder Stunde, die ergebnislos verstrich, mutloser.
1920: Jung und Alt
Bronstein malte mit Hingabe einige Schnörkel rund um seine Unterschrift und schloss sodann lächelnd den Aktendeckel. Es war ein befriedigendes Gefühl, einen Fall als gelöst ins Archiv befördern zu können. Denn ein Fall war nicht bloß ein Bündel Papier. Das waren ganz konkrete menschliche Schicksale, die auf tragische Art miteinander verwoben waren. Löste man also einen Fall, dann brachte man immerhin einen Hauch Gerechtigkeit in die Welt, wenn man schon nicht für Wiedergutmachung sorgen konnte. Ein Ermordeter wurde zwar nicht mehr lebendig, aber der Bösewicht, der ihm das Leben genommen hatte, wurde wenigstens seines eigenen Lebens auch nicht mehr froh, was für die Angehörigen des Opfers vielleicht ein kleiner Trost sein mochte. Und als Polizist hatte man leidenschaftslos an die Sache heranzugehen. Die Tatsachen allein zählten. Es oblag den Geschworenen, die Fakten einer Bewertung zu unterziehen. Natürlich hatte man auch als Ermittler eine Meinung zu den Dingen, doch die war privater Luxus und hatte auch privat zu bleiben. Mitunter kam es vor, dass eigentlich das Opfer der Böse war und seinen Mörder durch beständiges Schikanieren zu einer Verzweiflungstat aufgestachelt hatte. Gleichfalls geschah es immer wieder, dass der Verbrecher einfach schwachsinnig war und die Tragweite seines Tuns gedanklich gar nicht erfassen konnte. Doch Gewalttat blieb Gewalttat, vor der Polizei waren tatsächlich alle, die das Gesetz brachen, gleich. Und daher hatten eben auch allfällige Emotionen seitens der Behörde zu unterbleiben. Im Strafrecht gab es eben nur Schwarz oder Weiß, da war kein Platz für Grautöne. Entweder, jemand hatte eine Untat begangen, oder er hatte sie nicht begangen. Und wenn er sie begangen hatte, dann war er schuldig. In welchem Ausmaß er das war, hatte den Polizisten nicht mehr zu interessieren. Das musste das Gericht entscheiden.
Bronstein war ehrlich überrascht über seinen philosophischen Gedankenflug. Er hätte ihn gleich mitschreiben sollen, denn das wäre ein hervorragender Vortrag für die Polizeischule gewesen.
Und Vorträge zu halten hatte er wahrlich genug. Jede Woche trafen – immer noch – neue Polizeiangehörige aus allen Ecken und Enden der ehemaligen Monarchie in Wien ein, die auf ihren unkündbaren Beamtenstatus beim Ministerium des Inneren pochten. Als die Regierung Renner damals zugesichert hatte, jeden Staatsdiener, der es wünschte, weiterhin in Dienst zu halten, mochte niemand damit gerechnet haben, dass die Betroffenen dieses Versprechen ernst nahmen. Doch mittlerweile arbeiteten in den Reihen der Wiener Polizei mehr Provinzler als Wiener. Allesamt waren sie stramm deutschnational, schmetterten bei jeder Gelegenheit ›Lieb Vaterland magst ruhig sein‹, und alle hießen sie Kapuszczak, Narutinsky, Woprschalek oder Szentszerenyi. Und sie redeten so, wie sie hießen. Selbst Pokorny vermochte aus ihnen nicht schlau zu werden. »Doch, doch«, pflegte er dann immer zu sagen, »ich glaub ihnen schon, Herr Kollege, dass Sie Deutsch reden. Es ist halt nur nicht das Deutsch, das ich verstehe.« Bronstein hatte da schon weit weniger Geduld mit Germanias Zier: »Die wollen die Wacht am Rhein singen?«, hieß es von seiner Seite, »denen sing ich sie. Aber gach a no!«
Und als wäre ihre seltsame Sprache und ihre protzige Deutschtümelei noch nicht schlimm genug, war Bronstein Woche für Woche gezwungen, sich mit diesem von der Weltgeschichte vergessenen Haufen im Wege der Ausbildungskurse auseinanderzusetzen. Vergeblich appellierte er immer und immer wieder an seine Vorgesetzten, diese verkrachten Dorfgendarmen bloß nicht in den Außendienst zu lassen, doch deren Replik, was sollten diese Kollegen im Innendienst, da müssten sie Akten lesen, und das sei bei Weitem das größere Problem, hatte zu Bronsteins Bedauern sehr viel für sich.
Seitdem waren also die Kapuszczaks, Narutinskys, Woprschaleks und Szentszerenyis der Stolz der Wiener Sicherheitsdirektion. Und so kam es, dass einer von ihnen, Siegfried Kapuszczak aus Stanislau, bei Bronstein vorstellig wurde.
»Härr Leitnont, Oberleitnont, Härr! Bin gangen von Revier zu Tatort, weil gerufen dort zu gehen. Opfer lebt, aber verletzt schwer.«
»Sagen S’ einmal, wollen S’ mich pflanzen?«
»Pflanzen? Bitte, nicht verstehe, was meint!«
Bronstein atmete tief durch. »Welches Revier, welcher Tatort? Wer hat was gerufen?«
In Kapuszczak schienen die richtigen Zahnräder ineinanderzugreifen.
»No, Bezirk Chitzing. Tatort Zechetna Ulic… Gosse. Gerufen hat, bitte schen, Telefon.«