Paul Schneider – Der Prediger von Buchenwald. Margarete Schneider
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Als sei sie unwichtig, fehlt in M. S.s Beschreibung ganz die Geschichte von ihrer Verlobung. Da sie mir wesentlich dünkt, berichte ich darüber, was in P. S.s Tagebuch steht, und vor allem, was mir M. S. im Oktober 1979 davon erzählt hat. Im Tagebuch steht lediglich: »Von hier [Hochelheim] aus fuhr ich am 17. Oktober [1922] nach Weilheim auf den Brief von ›Gretels Tante‹ und habe mich verlobt, Sonntag, den 22. Oktober. Termin anfangs schwankend. Samstag d. 28. fuhr ich nach Hause zurück.«
Hinter diesen knappen Angaben verbirgt sich Folgendes: Eine in Tübingen lebende und ihrer Nichte Gretel sehr zugetane Tante glaubte zu bemerken, dass sich ein anderer junger Theologe, der übrigens aus einer prominenten Familie württembergisch-kirchlicher Altehrbarkeit stammte, um das anziehende Mädchen Gretel bemühe. Dieser Gefahr wollte die geistesgegenwärtige Tante unter allen Umständen rechtzeitig begegnen. So schrieb sie couragiert an den ihr kaum bekannten Vikar Schneider die kurze Nachricht: »Herr Schneider, wenn Ihnen an Gretel noch etwas liegt, dann kommen Sie bitte sofort. Es grüßt Sie Gretels Tante.« Der so Angeschriebene ließ alles stehen und liegen und begab sich schleunigst auf den Weg nach Weilheim.
Was dort geschah, hat mir M. S. so erzählt: Sie und Paul seien am Sonntag mit der Familie spazieren gegangen. Sie seien unterwegs etwas hinter der Familie zurückgeblieben. Schließlich seien sie sich in die Arme gefallen. Abends habe Paul gesagt, er werde es jetzt dem Vater sagen. Paul ging zu ihrem Vater Karl Dieterich und hielt in aller Form um Gretels Hand an. Die Eltern Dieterich haben sich darüber herzlich gefreut. Am nächsten Tag gingen Gretel und Paul nach Tübingen zum Fotografen und ließen jenes bildschöne Foto machen, das man inzwischen in mehreren Büchern findet.55 Gretel war damals fast neunzehn Jahre alt. Das Bild sei lange im Schaufenster des Fotogeschäfts ausgestellt gewesen. Gretels Freundinnen, die es sahen, hätten gedacht, es zeige sie mit einem ihrer Brüder. Sie hätten sich an diesem Tag silberne Ringe gekauft. Goldene seien zu teuer gewesen. Es war ja die Inflationszeit. Erst zur Hochzeit konnten sie sich goldene Ringe leisten. Das Verlobungsfoto habe Paul seinem Vater in Hochelheim gezeigt. Der sei davon freudig bewegt gewesen. Von da an hätten sie öffentlich als verlobt gegolten. Leider habe Paul bald danach ins Predigerseminar nach Soest abreisen müssen.
Der Ruhrkampf bewegt Paul sehr. »Wir Kandidaten 56 stehen scheinbar abseits von dem großen Geschehnis; wir sind frei, uns zwingt keine äußere Gewalt oder Macht zur Mehrarbeit, und der Staat sorgt noch nach wie vor für uns und mit dem Staate also diese arbeitende Volksgemeinschaft. Es ist einzig das Gewissen, das uns den Kampf in seiner lastenden Schwere empfinden lassen kann. Da, wo es wach ist oder sich wecken lassen will. Was sich daraus für jeden Einzelnen für Aufgaben ergeben, hat dieser selbst zu sagen« (Tagebuch).
Was den »Ruhrkampf«, d. h. den gewaltlosen Widerstand gegen die französischen Besatzer an der Ruhr, betrifft, so schreibt P. S. von Soest aus am 19. Februar 1923 an »Du meine liebe Mutter« in Weilheim Folgendes. Er äußert die Hoffnung, dass »wir den Wirtschaftskrieg gegen Frankreich gewinnen«. Ferner: »Du möchtest etwas hören von unserer Stimmung über die neuesten Begebenheiten an der Ruhr. Die Westfalen hier sind ein trutziges Volk, reden nicht viel, aber denken umso mehr. Ihr zäher Kampfesmut hat sich schon seit Kriegsende in einer Sage von der ›letzten Schlacht am Birkenbaum‹ niedergeschlagen. Es gibt hier eine Gegend in der Nähe, Heide, Moor und Birkenbäume in der Nähe des »Hellweges«, einer uralten Straße von Dortmund über Soest nach Osten führend; in dieser Gegend sehen die Bauern hell, und da sehen sie nun schon seit Jahren in einem Talgrund auf- und abziehende Marschkolonnen und Reiter, und aus diesen Gesichten der Bauern und Schäfer hat sich die Sage der letzten Schlacht am Birkenbaum als eine Lieblingssage des Westfalenlandes gesponnen. Das Volk meint auch, sie werde buchstäblich so eintreffen; aber vielleicht ist das, was an der Ruhr vorgeht, schon die letzte Schlacht am Birkenbaum, und die Sage ist nur Ausdruck des Kampftrutzes, der auch dem Feind im eigenen Land die Stirn bietet und Not und Entbehrung dieses Krieges im eigenen Land stellvertretend für die anderen auf sich nimmt. Sicherlich wird auch zur endgültigen Durchfechtung dieses wirtschaftlichen Riesenkampfes die Opferkraft unseres ganzen Volkes noch auf eine furchtbar harte Probe gestellt werden … Was jetzt schon im Einbruchsgebiet geduldet wird und wie man sich wehrt, das lest Ihr ja im Schwabenland genauso wie wir. Es ist doch so eine Art Neugeburt, die sich in weiten Teilen unseres Volkes vollzieht, ein mächtiges Brausen geht durch die Lande.«
Paul hofft auf einen sozialen Staat als Frucht der Leiden des Ruhrkampfes: »Dieses Leiden legt sich bei der starken Solidarität unserer Arbeiter über die ganze deutsche Arbeiterschaft, schmilzt sie nur umso fester zusammen und wird Deutschland zu einem Arbeitsstaate, und das ist dann der soziale Staat, umschaffen. Wer die Kräfte zu diesem Arbeitswillen allein geben kann, ist klar, und so wird dieser soziale Staat viel mehr von den Kräften des Christentums durchdrungen sein müssen, als es bisher eine Volksgemeinschaft gewesen ist« (Brief vom Februar 1923 an die Schwiegermutter Marie Dieterich). – »Ein dunkler Schatten liegt ja wie über unser aller Leben, so ganz besonders über Deinem Lebensabend, lieber Vater 57: die Not des Vaterlandes; seine seelische Not, die es in dem Stürmen und Brechen der Tage den haltenden Anker noch nicht hat finden lassen. Darum muss die Not vorläufig noch immer höher steigen. Und ob nicht das Deutsche Reich darüber zerbricht? Es berührt einen heute ganz eigen, wenn man sieht, wie die großen Propheten des Alten Testaments der fast völligen Vernichtung ihres Volkes so kalt und entschlossen ins Auge sehen. Gottes Reich über alles. Auch das deutsche Volk nur sein Werkzeug, das er sich für seine Zwecke zubereitet, wie er immer will, das auch nur ein zeitliches, vergängliches, bedingtes Zwischenglied sein kann auf dem Wege zu dem Ziele ›Da er sein Reich groß machen wird und des Friedens auf dem Throne Davids kein Ende und in seinem Königreich‹58. Nein, die tiefste Freude, die Freude in Gott soll auch kein noch so schweres Geschick des Vaterlandes uns rauben dürfen und können, uns, die wir nicht sehen auf das, was sichtbar, sondern was unsichtbar ist. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, das ist ewig.59 Und wenn es schon den alten Propheten nicht bange wurde, die doch nur auf Hoffnung lebten, die das Heil noch nicht gesehen hatten, wenn sie die Heilshoffnung schon höher achteten als Ruhm und Ehre und Glück ihres Volkes, wie sollte uns bangen, denen das Heil gegeben und versiegelt ist und die wir wissen, dass alles, was nun noch kommt, nur der vollendete Ablauf der Heilsgeschichte ist? Gewiss, wir leben noch in dieser Welt und mit diesem unserem leidenden Volke und teilen auch seine Leiden. Aber wir haben Auftrag und Beruf aus einer anderen Welt, und dort ist unser Bürgerrecht 60. Und wir wissen, diese Welt wird trotz allem einmal siegen, deshalb sind wir fröhlich in Trübsal«61 (Brief vom 11. Juli 1923 an den Schwiegervater Karl Dieterich).
Die Briefe an die Eltern Dieterich hatten keineswegs nur politischen oder theologischen Inhalt. Der künftige Schwiegersohn hatte offenbar auch Grund, Gretel vor dem pastoralpädagogischen Eifer ihrer Eltern zu bewahren. Diese fühlten die Verpflichtung, ihrer unverbildet natürlich-vitalen Tochter, damit sie eine rechte Pfarrfrau werde, noch allerhand vorbereitende Erziehungsmaßnahmen angedeihen zu lassen. Ihre Mutter, so berichtete M. S., pflegte damals zu ihr zu sagen: »Du unkultiviertes Frauenzimmer«. Dagegen verteidigte sie aus der Ferne ihr Liebster: »Wollt ihr denn wirklich Gretel noch ›dressieren‹? Ich meine, sie passt so gut schon, nicht zu mir – da ist sie schon viel zu gut –, sondern auch zur Pfarrfrau. Fremdes Wesen, was nicht zu ihr passt, wird und soll sie sich doch niemals aneignen. So kann sie doch höchstens in der Weiterbildung des ihr Eigentümlichen ohne Mache und Zwang noch wachsen, und dann muss ihr Herz freudig zu allem Ja sagen dürfen, was noch zu tun bleibt … Will sie noch lernen, so lasst sie doch dahin gehen, wo sie kranke Menschen gesund pflegen darf. Die Diakonissenhäuser rufen ja nach Hilfe … Aber vorläufig ist ja die arme kranke Tante da, und was wäre nächstliegender, als dass Gretel hier so lang hilft, als ihr irgend möglich.«62
Gretel