Vernehmungen. Heiko Artkämper
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Vernehmungen - Heiko Artkämper страница 35
190Der angehaltene Fahrzeugführer, bei dem keine Auffälligkeiten festgestellt werden, wird nach seinem Alkohol- und/oder illegalem Drogenkonsum gefragt. Die Frage wird quasi ins Blaue hinein gestellt.
191Das Kammergericht hat hier ausgeführt, dass eine derartige Befragung noch keine Belehrungspflicht im Sinne der §§ 136, 163a StPO, 46 Abs. 1 OWiG begründet.
2.8.2Selbstgespräche von Beschuldigten
192Im Rahmen von Ermittlungen oder durch ungewolltes Mithören kann die Polizei an Aussagen eines Beschuldigten gelangen, die dieser durch ein Selbstgespräch wiedergegeben hat. Solche Äußerungen des Beschuldigten können weder den Spontanäußerungen noch einer Vernehmung zugeordnet werden. Vielmehr handelt es sich um einen Kernbereich der persönlichen Lebensführung. Ein altes deutsches Volkslied beschreibt dies mit folgenden Worten: „Die Gedanken sind frei …“ Dieses Gedankengut des Beschuldigten, das er mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht für die Außenwelt, sondern nur für ein Zwiegespräch mit sich selbst offenbart hat, unterliegt dem Verwertungsverbot, das vom BGH so festgestellt wurde.29
Beispiel:
193Im Rahmen einer Innenraumsprachüberwachung in einem Fahrzeug, die durch den Ermittlungsrichter angeordnet war (§ 100f StPO i. V. m. §§ 100b Abs. 1, 100d Abs. 2 StPO), machte der Beschuldigte umfassende Ausführungen im Rahmen eines Selbstgesprächs hinsichtlich eines von ihm durchgeführten Tötungsdeliktes zum Nachteil seiner Ehefrau.
194Der BGH begründet seine Entscheidung damit, dass es für den Menschen möglich sein muss, einen letzten Rückzugsraum zu haben, in dem er sich mit seinem eigenen Ich befassen kann und nicht von staatlichen Stellen überwacht werden darf. Dieser Kernbereich der Persönlichkeitsentfaltung beinhaltet einen absoluten Schutz vor staatlichen Ermittlungsmaßnahmen.30
2.8.3Spontanäußerungen von Zeugen
195Spontanäußerungen von Zeugen sind im Hinblick auf ihre Verwertbarkeit besonders problematisch, wenn es sich um zeugnisverweigerungsberechtigte Zeugen handelt, die sich später im Rahmen der Hauptverhandlung berechtigterweise auf dieses Recht berufen.
Beispiele:
196Der Notruf des Kindes bei der Einsatzleitstelle beginnt mit den Worten: „Der Papa hat mir gerade da unten so weh getan!“
Nachdem die Beamten, die durch die auffällige Fahrweise auf ein Fahrzeug aufmerksam geworden sind und den Halter festgestellt haben, an dessen Wohnort eingetroffen sind, bezichtigt die Ehefrau ungefragt ihren Mann einer gerade durchgeführten Trunkenheitsfahrt: „Der ist gerade mit dem Auto nach Hause gekommen!“
197In beiden Fällen liegen Spontanäußerungen vor, die nach herrschender Meinung auch später reproduzierbar bleiben31 und daher zu einer Verurteilung beitragen (können).32
Praxistipp: | |
198 | Derartige Spontanäußerungen werden durch die Vernehmung des Polizeibeamten in die Hauptverhandlung eingeführt. Das Gericht ist daher auf sein Erinnerungsbild angewiesen, das durch entsprechende Aktenvermerke, die unbedingt gefertigt werden müssen, unterstützt wird. |
Einen Grenzfall betrifft folgender Sachverhalt:33
Beispiel:
199Eine Ehefrau meldet sich per Notruf und teilt mit, dass „sich der Ehemann an der Tochter vergangen hat“. Den am Tatort eintreffenden Beamten erzählt sie auf die Frage „Was ist los?“ nähere Einzelheiten.
200Der BGH hat die Verwertung dieser Einzelheiten als Spontanäußerung zugelassen. Die Frage „Was ist los?“ habe noch keine Vernehmung, auch keine Vernehmung formloser (informatorischer) Art eingeleitet; sie „sollte der Ehefrau des Angeklagten vielmehr Gelegenheit geben, in Ergänzung ihres telefonischen Notrufes zu sagen, warum sie polizeiliche Hilfe benötigte“34.
2.9Vorgespräche
201Der Begriff des Vorgesprächs weist durchaus unterschiedliche Konnotationen auf: In der Vernehmungsliteratur wird teilweise ein allgemeines „Vorgeplänkel“ – die Einhaltung zwischenmenschlicher Umgangsformen, der Versuch, einen Zugang zu dem zu Vernehmenden zu schaffen – von dem Einstieg in die eigentliche Vernehmungsmaterie und der sich damit einstellenden Vernehmungsatmosphäre unterschieden. Ersteres soll mangels Sachbezug in keinem Fall eine Vernehmung oder ein Vorgespräch darstellen. Dies ist zweifelhaft und gefährlich.
Praxistipp: | |
202 | Der Beschuldigte ist in keiner Weise verpflichtet, irgendwelche Angaben zu machen; dieses Einlassungsverweigerungsrecht bezieht sich auch auf solche Umstände, die in keinerlei Zusammenhang mit der Vernehmungsmaterie stehen. Er darf umfassend schweigen. |
203An dieser Stelle soll auch ausdrücklich auf die Gefahren hingewiesen werden, die aus den häufig geführten Vorgesprächen oder Vorbesprechungen resultieren. Es ist jedermann, der selbst Vernehmungen führt, bekannt, dass derartige Vorgespräche nötig sind und stattfinden. Sie sollen dazu dienen, eine entspannte Gesprächsatmosphäre und dem Vernehmenden Zugang zu dem Beschuldigten zu schaffen. Dabei weisen sie regelmäßig Bezüge zur Tat auf, derentwegen die Vernehmung erfolgen soll. Auch wenn Vorgespräche aus der Rechtsrealität nicht wegzudiskutieren sind, sind sie bei genauer Betrachtung bereits Teil der Vernehmung.
Beispiel:
204Hat ein Polizeibeamter einen Beschuldigten für einen bestimmten Zeitpunkt in sein Dienstzimmer geladen, klopft jemand zu diesem Zeitpunkt an die Tür und die dort eintretende Person ist identisch mit jener Person, die auf einem dreiteiligen Lichtbild abgebildet ist, das auf dem Schreibtisch des Polizeibeamten liegt, ist für eine wohlgemeinte Konversation eigentlich kein Raum. Andererseits würde eine sofortige Konfrontation des den Raum betretenden Beschuldigten mit seinen Rechten ein sinnvolles Gespräch mehr oder minder unmöglich machen.
205Wichtig ist, dass sich aus den geführten Vorgesprächen oftmals Vermengungen mit der eigentlichen Vernehmung ergeben. Der rechtsstaatlich gebotene Weg ist hier eindeutig: Auch den vernehmungstaktisch gebotenen Vorgesprächen ist eine Belehrung voranzustellen, zumal ansonsten die Beschuldigtenrechte ausgehebelt werden könnten. Wurde eine Belehrung versehentlich vergessen, so kann die Verwertbarkeit der nachfolgenden Vernehmung nur dadurch sichergestellt werden, dass der Beschuldigte vor Beginn der eigentlichen Vernehmung darauf hingewiesen wird, dass die von ihm im Vorgespräch getätigten Äußerungen nicht verwertbar sind.