Bereuen. Dong Xi
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Es war zum ersten Mal so mäuschenstill in unserer Wohnung, wie auch im gesamten Lagerhaus. Nachts wälzte sich Vater im Bett hin und her und schlief erst ein, als es am Fenster hell wurde. Es gab seitdem auch kein Schnarchen mehr. Stattdessen knirschte er leise mit den Zähnen. Unversehens umarmte er mich im Schlaf und stieß hervor: „Bergfluss, Bergfluss“. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Er schien seine Verwirrung eingesehen zu haben und ließ seine Hand los, die nun schlaff auf meine Seite fiel. Meine Mutter hustete ein paar Mal laut und stand von ihrem Bett auf. Die in der letzten Nacht verstummten Geräusche kehrten morgens ins Lager zurück. Da war das Pinkeln von Tante Fang und das Spucken von Onkel Zhao. Wir richteten uns auf Grund dieser vertrauten Geräusche im Bett auf, wuschen uns das Gesicht und verschwanden. Mein Vater faulenzte allein im Bett weiter.
Wenn dieses nächtliche Vorkommnis nur das eine Mal gewesen wäre, hätte meine Mutter das möglicherweise entschuldigen können. Auch ich hätte das entschuldigt. Aber mein Vater war unbeherrscht, umarmte mich in den folgenden Nächten immer wieder und schrie dabei „Bergfluss, Bergfluss“. Bevor ich meine alte Gänsehaut los war, überzog mich schon wieder eine neue. Ich konnte nicht umhin, auf einem zusammengestellten Bettchen zu schlafen. In den folgenden Nächten umarmte mein Vater sein Kopfkissen und rief nach wie vor den Namen jener Frau. Meiner Mutter riss schließlich der Geduldsfaden, sie schrie plötzlich auf, griff nach einem Wasserglas, das sie in Richtung meines Vaters Bett zum Kopfende hin schmiss und donnerte ihn aus vollem Hals an: „Du, Schurke! Raus mit dir!“
Mein Vater stieg verdrießlich aus dem Bett, zog sich eine Jacke an und trollte sich wirklich. Er rollte wie ein Eisenring immer vorwärts, rollte über die Eisen-Pferd-Straße, die Drei-Bindungen-Straße und hielt an der Einfahrt zur Eisenbahn. Du weißt, daß damals in der Nacht die ganze Stadt ruhte, nur die Züge auf den Schienen schliefen nicht. Sie fuhren hin und her, manchmal ein ganzer Zug voll von Lichtern, manchmal mit Waren zu Bergen aufgeladen. Mein Vater saß am Rand der Bahngleise und beobachtete die Züge. Warum wollte er die Züge beobachten? Er hatte heimlich die Waffenfabrik aufgesucht und durch andere erfahren, daß Bergfluss dort nicht mehr zur Arbeit erschienen war. Sie war in den Zug vom Lokführer Dong versetzt worden. Sie würde mit Sicherheit eines Tages das ganze China bereisen.
Eines Tages nach unserer Heimkehr sahen wir einen Zettel auf dem Tisch liegen. Es waren die Handschriften des Vaters: „Ich habe in Peking zu tun und werde in fünf Tagen wieder zu Hause sein.“ Meine Mutter hielt den Zettel, ihre Hand zitterte leicht. „Weißt du, warum Papa nach Peking gefahren ist?“ fragte Blümchen. „Besucht er den Vorsitzenden Mao?“
„Diese große Ehre hat er nicht, er besucht Bergfluss im Zug.“ Meine Mutter zerriss den Zettel, warf ihn zu Boden und versetzte ihm einen kräftigen Tritt. „Ein großer Gauner ist dein Vater,“ platzte sie ihren Jammer heraus, „ich kann mit ihm nicht weiterleben. Hätte ich nicht euch beide Geschwister, hätte ich mich schon tausendmal wollen scheiden lassen. Er muss überlegen, welcher unmögliche Typ Bergfluss ist. In welcher Hinsicht ist sie besser als deine Mutter? Kann sie Kaligrafie? Kann sie Instrumente spielen? Kann sie sticken? Das alles kann sie nicht. Sie kann nur mit dem Hintern wackeln. Wenn die beiden nebeneinander auf einer Bank sitzen, verhalten sie sich wie zwei Schurken!“
Nach dem Abendessen fing meine Mutter an, zu packen. Sie legte die Kleidungen von ihr und Blümchen ordentlich in den alten Lederkoffer und auch die halbe Flasche Parfüm. Ich fragte: „Mutter, was ist mit meinen Sachen?
„Wir können nicht alle wegfahren. Du musst hierbleiben, um für deine Mutter auf das Haus aufzupassen.“
An jedem Feierabend packte meine Mutter den Koffer neu. Manchmal erinnerte sie sich an ein Buch, manchmal plötzlich an ein Album oder an einen Kamm. Alles, was sie finden konnte, steckte sie in den Koffer. Schließlich konnte der Koffer wirklich nichts mehr aufnehmen. Sie nutzte zusätzlich ein Tragenetz, in das bald auch nichts mehr ging. Sie begann dann die Sachen aus dem Koffer und dem Netz heraus zu nehmen und änderte ständig die Strukturen, mal heraus und wieder hinein, mal hinein und wieder heraus. Das wiederholte sie mehrere Tage.
Eines Abends, als mein Vater niedergeschlagen wieder zu Hause ankam, packte meine Mutter den Koffer: „Wir haben zusammen zwei Kinder. Jeder sorgt für eines.“ Mein Vater fragte: „Wo willst du hin?“ „Zusammen mit Tieren im Zoo zu leben, ist besser als mit dir.
Wenn dir das klar geworden ist, komme ich zurück. Dann lassen wir uns scheiden.“
Mein Vater hockte auf dem Boden, griff mit beiden Händen an seinen Kopf. Meine Mutter nahm noch das Netz in die Hand und ging mit Blümchen aus dem Haus. Ich versetzte einen Fußtritt gegen den Hocker und schimpfte: „Verdammt Scheiße!“
Mein Vater hob den Kopf: „Zu wem sagst du Scheiße?“
„Das weißt du nicht?! Ich hätte das nicht geglaubt, du bist unverbesserlich.“
Mein Vater stand augenblicklich auf: „Das ist Liebe! Kapierst du?“ „Liebe ist, die eigene Frau zu lieben. Die Frau eines anderen zu lieben ist ein Schurkenstück!“
Mein Vater sprang auf und ab: „Wie kann ich dir das erklären? Ich umschreibe das einfach so. Nachdem du zum Beispiel zehn Jahre keinen Tropfen Öl genossen hast und dir plötzlich jemand eine Mahlzeit mit Fleisch anbietet, wie kannst du das vergessen, wie kannst du den wegschicken?“
„Aber Mutter hat doch sicher einen Teller Fleisch für dich zubereitet. Warum hast du das vergessen? Warum hast du gemacht, daß sie weg geht?“
„Du weißt einen Furz! Deine Mutter hat mir zehn Jahre kein Fleisch zum Essen gegeben. Du kannst sie fragen. Wie hätte ich derart handeln können, hätte sie mir nur ein kleines bisschen Ölblümchen gegeben? Du bist noch kein Mann. Das verstehst du nicht. Ohne das würde kein Mann weiterleben.“
„Was hast du mir gesagt, als du verletzt warst? Du hast deine eigenen Worte vor die Hunde geschmissen!“
Mein Vater seufzte: „Du wirst das eines Tages verstehen können.“ „Auch im Alter von hundert Jahren werde ich das nicht verstehen können. Du bist gemein!“
11
Wenn damals die Fotoalben meiner Familie übereinander gestapelt wurden, machte das etwa einen halben Meter aus. Meine Mutter nahm die zwei für sie wichtigsten mit. Ich durchstöberte alle Fotos und suchte die Gruppenaufnahmen mit meinem Vater heraus und schnitt sein Porträt mit der Schere weg. Die meisten Fotos waren schwarzweiß. Nur die besonders Guten waren in Farbe. Einige davon waren nur drei Finger breit und die Gesichter nicht größer als Sojabohnen. Auf manchen Fotos rückten die Fotografierten eng zusammen. Um meinen Vater auszuschneiden, musste ich oft entweder die Schulter meiner Mutter oder die von mir entfernen. Das Ausschneiden von meinem Vater, der mich als Baby auf den Armen trug, war nicht weniger schwierig als eine Schulprüfung. Der Schnitt musste dem Umriss meines Vaters entsprechen, um ihn optisch zu entfernen. Auf dem Foto blieben nur noch die beiden mich haltenden Hände zurück, bei deren Anblick ich Gänsehaut bekam. Ich musste auch diese entfernen. Also schabte ich sie mit Klinge ab, bis sie nicht mehr zu erkennen waren.
Nachdem ich all das erledigt hatte, fühlte ich mich innerlich nur wenig entspannt.