100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 1. Erhard Heckmann
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Der neue Tag hat ein volles Programm. Es geht zeitig zum Sea Bus, der vom Ende der Granville Street ablegt und seine Fahrgäste für je einen Dollar hinüber nach Nordvancouver zum Lonsdale Quay bringt. Mit dem gleichen Ticket steigen wir dort in den „236er“, fahren weiter zum Capilano Regional Park und dort mit der Gondelbahn für insgesamt 45 Dollar hinauf zum Grouse Mountain, wo die Aussicht 1.211 Meter über dem Meer beim Frühstück im Restaurant der Bergstation eine großartige ist: Auf Hafen, Innenstadt und Fraser Delta; links dahinter grüßen die amerikanischen Cascade Mountains mit dem Vulkan Mount Baker, rechts die Bergzüge von Vancouver Island. Und wieder hüpft unser Herz und lässt den Puls bei schönstem Wetter schneller werden, denn das hier, das ist doch erst der Anfang unseres Weges durch Kanada und Alaska!
Nach der Stärkung bummeln wir entlang der drei Dutzend, bis zu vier Meter hohen Holzfiguren die zeigen, was eine Kettensäge in der richtigen Hand so alles kann, wandern ein Stückchen auf einem der vielen Wege und schauen vor der Talfahrt von Vancouvers Hausberg und Skigebiet auch noch bei „Grinder und Coola“ vorbei. Die beiden verwaisten jungen Grizzlys werden hier aufgezogen und später wieder in die Freiheit entlassen, wofür wir ihnen alles Glück dieser Welt wünschen.
Unten im Tal nimmt uns der „236“ weiter mit zur Suspension Capilano Bridge und dem Capilano River Regional Park. Die 137 Meter lange Konstruktion – Vancouvers älteste Attraktion –, die sich seit mehr als 100 Jahren am Fuße des Grouse Mountains in 70 Meter Höhe über den tief eingekerbten, waldigen Capilano Canyon schwingt, schaukelt und wippt über dem Fluss zwar ein wenig hin und her, doch hat man den Takt schnell heraus. Auf der anderen Seite warten gewaltigen Bäume, von Gebirgsbächen gefüllte Forellenteichen, Totem Pools oder die Lachszuchtanlage, die den Nachwuchs für die Wildnis aufzieht und auch den Lebenszyklus dieser Fische darstellt. Wer zur richtigen Jahreszeit kommt (August bis November) kann auch den zurückkehrenden, laichbereiten Lachsen zuschauen, wie sie die Fischleitern und Stromschnellen im wilden Capilano River bewältigen, um sich zu ihren Laichgründen durchzukämpfen. Der Sisters Pond, Wanderwege, indianische Schnitzer im Big House, Geschichten im Story House oder die Trading Post sind weitere Stationen, die auf diesem Rundgang gefallen.
Der Nachmittag gehört der Stadt, und die ersten Minuten davon einem Stand mit „Fisch und Chips, die nächsten dem Canada Place. Sein Gebäudekomplex ist einem Ozeanriesen mit fünf weißen, voll im Winde stehenden Segeln nachempfunden, der heute dem Convention und Exhibition Center, Pan Pacific Hotel, World Trade Center und IMAX Kino eine Heimat bietet. Zur Expo 1986 schützte das riesige Zeltdach den Kanadischen Pavillon. An der östlichen der beiden seitlichen Anlegestellen hat das Kreuzfahrtschiff Veendam festgemacht, das Sabine veranlasst, wie angewurzelt stehen zu bleiben und nachdenklich zu verweilen. Auf ihm fuhr einst ihr Vater als Koch um die Welt. Aber das ist nur die eine Seite der Vergangenheit. Auf der anderen steht, dass ihn im Zweiten Weltkrieg eine feindliche Kugel tödlich traf, als seine Tochter ganze zwei Tage alt war. Und dort steht auch, dass sich die beiden niemals gesehen haben, ihn die Botschaft von dem neuen Erdenbürger aber noch rechtzeitig erreichte.
Ein paar Hundert Meter weiter bringt uns der verglaste Fahrstuhl in 50 Sekunden auf die Aussichtsetage des Harbour Centre Towers, die aus 177 Meter Höhe einen grandiosen 360 Grad Rundblick gewährt. Über uns lädt noch ein Drehrestaurant zu mehr Gemütlichkeit ein, doch uns interessiert hier nur die Aussicht. Auf das etwas winzig erscheinende Leben unter uns, die meerumschlungene Stadt, den Hafen, das Burrard Inlet mit seinen Yachten, Fähren, bienenfleißigen Wasserflugzeugen, Kreuzfahrtschiffen, Containerriesen und auf die rahmenden Berge. All das lässt die zehn Dollar Fahrpreis schnell vergessen, zumal die Tickets auch noch eine zweite Fahrt erlauben. Wenn es dunkel wird und Millionen Lichter Vancouver erleuchten, dann wollen auch wir nochmals nach oben.
Jetzt aber heißt die Richtung Gastown. Dieses, nach dem Zweiten Weltkrieg sehr verkommene Hafenviertel östlich des Shopping Centers und entlang der Water Street lädt heute als liebevoll restaurierter alter Stadtteil ein und bietet viel Charme. Mit denkmalgeschützten viktorianischen Backsteingebäuden, hübschen Innenhöfen, nett dekorierten Boutiquen, Andenkenläden, Kunstgalerien, Restaurants, Cafés und viel Blumenschmuck an Fenstern und Gaslaternen. Auch Indianische Schnitzkunst wird hier angeboten, deren Preis-Qualitätsverhältnis wir anderswo im Lande kaum wiederfanden. Die weltberühmte Steamclock, die erste Dampfuhr ihrer Art auf unserem Globus, pfeift an der Ecke von Water und Cambie Street aller viereinhalb Minuten, jede volle Stunde ab oder an und lässt halbstündlich auch ihr Glockenspiel ertönen. Am Marple Tree Square steht das Denkmal des Stadtgründers „Gassy Jack“, der 1867 hier seinen Saloon eröffnete, in dem Holzfäller, Sägewerksarbeiter, Seeleute und Goldsucher ihren Whiskey tranken. Der Oldie, der eigentlich John Deighton hieß, steht somit auch auf einem Whiskeyfass und das Ganze auf einem Sockel, damit der kleine Mann auch ins rechte Licht gesetzt erscheint. Der Laden mit den Cowboystiefeln direkt links hinter ihm erinnert ebenso an die alten Zeiten wie die sich rechterhand anschließende Straßenkneipe in der nostalgischen Straße. Lediglich gegenüber mischt sich die Moderne ein und erinnert mit einem dreieckigen Haus an das „Bügeleisen“ in New York City.
Und wir? Wir tun hier das, was all die anderen Touristen auch tun. In einem der Straßecafés niederlassen, Kaffee oder Eis bestellen, dem bunten Treiben zuschauen und anschließend ein paar Läden durchstöbern. Richtig begeistert sind wir vom „Heritage Canada“ in der Waterstreet. Was dort hängt, steht und liegt ist excellent, doch haben diese „Native Crafts“ bekannter Künstler auch ihren Preis. Mir hatte es ein „Talking Stick“ von Joseph Tyron angetan (nur wer bei einer Indianerversammlung einen solchen gereicht bekam durfte reden), doch als es nichts mehr zu verhandeln gab, standen immerhin noch 400 Dollar zur Diskussion. Und das war mir zu teuer. Außerdem war ich der Meinung, dass es „in der Provinz“ erheblich preiswerter sein müsste als im touristischen Vancouver. Doch das war, bei gleicher Qualität, eine falsche Annahme.
Auf dem Weg zum Hotel geht es zunächst nochmals hinauf auf den Tower um auf das nächtliche Vancouver zu schauen, dann zum Robson Square, wo sich die Kuppel des einstigen Gerichtsgebäudes (heute eine Kunstgalerie) erhebt und vorbei am alten Hotel Vancouver mit seinem unverkennbaren grünen Kupferdach. An der Waterfront, wo der alte Kohlehafen komplett umgebaut wird, sind Bagger und Baumaschinen auch zu dieser späten Stunde noch aktiv, während etwas weiter die supermodernen Bauten schon Realität geworden sind, deren Preise für die Eigentumswohnungen den Stockwerken in der Höhe nichts nachstehen.
Vancouver hält auch am nächsten Tag für uns noch einiges bereit, aber alles lässt sich nicht mehr abmarschieren. Ein Blick in den Elizabeth Park, das Marine Museum und ein Bummel durch das östlichen Ende von Downtown, das die Einheimischen „Yaletown“ nennen: Mit Glas- und Betontürmen entlang der Uferpromenade, des Yachthafens und des futuristischen Pacific Places; mit Galerien, Boutiquen, Clubs und Restaurants die einen Abschnitt prägen, den die City Hall eigentlich zu Vancouver-Süd stempelt. Die alten Backsteinhallen wurden einer Renaissance unterzogen und zu eleganten Geschäftsfronten, Künstler- und Filmstudios umfunktioniert. Das Gelände dieses 83 Hektar großen Stadtteils hatte vor Jahren der Hongkong-Milliardär Lika-Shing erworben, entwickelte und passte es der „Perle am Pacific“ an. Diese Bebauung, so ist zu lesen, „folgte der größten Generalstabsplanung für eine Downtown-Community in Nordamerika“. Dabei verschwand das stillgelegte Eisenbahn- und Industriegebiet ebenso, wie sich der False Creek veränderte. Sein „Dom“, ein Pavillon bei der Weltausstellung, beherbergt inzwischen unter der silbernen Kugel die „Science World”, und dort, wo die Davie Street auf den False Creek trifft, sind auch die gigantischen Lastkräne verschwunden, die die schwere Maschinerie für die Holzcamps im Norden zu verladen hatten.
In dieser Stadt könnte man schon noch ein paar Tage verweilen, doch unsere Reise geht morgen weiter und das Shanghai Chinese Bistro in der Alberni Street, wo der Koch die handgemachten Nudelstränge persönlich durch die Luft wirbelt, und aus seiner Kunst eine regelrechte Show macht, ist unsere letzte Einkehr.