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Doch zum Essen hatten die Techniker keine Zeit. Vielmehr lief die Espressomaschine im Dauereinsatz. Das Koffein half den Anwesenden, neben seiner belebenden Wirkung, einen kühlen Kopf zu bewahren. Den brauchten sie auch, denn ihre Experimente scheiterten mit einer beständigen Gleichmäßigkeit.
DIENSTAG
Parallele Zeitlinien
Zukunft ist etwas, das meistens schon da ist,
bevor wir damit rechnen.
Anonym
Sie schlief lange und ging spät zum Frühstücken. Das Buffet war gut sortiert. Die moderne und farbenfrohe Ausstattung des Speisesaals tat ein Übriges, um ihre Laune zu verbessern, war sie doch ein Morgenmuffel. Die gut aufeinander abgestimmten Pastelltöne standen in angenehmem Kontrast zu der gezuckerten Winterwelt draußen vor dem Fenster. Alles lud zu einem längeren Verweilen ein. Sie freute sich auf ein gemütliches und ausgedehntes Frühstück. Gerade war ein Tisch am Fenster frei geworden. Sie nahm ihn sofort in Beschlag.
Vom Frühstücksraum hatte man einen grandiosen Blick über die Täler bis zu einer massiven Bergkette. Die Sonne schien und ließ sich auch von vereinzelten Wolken nicht davon abhalten. Fast wie in einem James-Bond-Film, der in den Bergen spielt, dachte sie, als sie auf die schneebedeckten Gipfel schaute, die in der Morgensonne glitzerten. Ihre Stimmung war angesichts des grandiosen Panoramas sogar ausgesprochen euphorisch, fühlte sie sich doch fast wie im Urlaub.
Das änderte sich schlagartig, als die Kellnerin sie informierte, dass zwei Carabinieri auf sie warteten. »Auf mich«, staunte sie ungläubig.
»Ja«, sagte die Kellnerin.
»Na klasse«, sagte sie, ließ das von ihr mit englischer Zitronenmarmelade liebevoll bestrichene Brötchen liegen und verließ den Raum, ohne einen Bissen zu sich genommen zu haben.
Die beiden Polizisten, die im Nebenraum saßen, waren höflich. Sie sprachen leidlich deutsch, stellten sich vor und befragten sie zum Unfallhergang. Sie schilderte, so gut es ging, die in ihrem Gedächtnis vorhandenen Fragmente des Unfallgeschehens, erzählte von dem starken Regen und von allem, was ihr noch in Erinnerung war. Sie beendete ihre Darstellung mit den Worten: »Das hinter mir befindliche Fahrzeug ist plötzlich und unerwartet auf mich aufgefahren und hat mich gegen die Leitplanke gedrückt. Ich hatte keine Chance, den Unfall zu verhindern, und bin auch nicht schuld daran.«
»Das sieht Ihr Unfallgegner anders«, sagte der eine Polizist. Er hatte eigentlich auf den ersten Blick den netteren Eindruck gemacht. Dieser Eindruck war jetzt verflogen. »Er meint, Sie hätten abrupt und unerwartet gebremst. Nur deswegen sei er auf Sie aufgefahren. Er habe selbst noch scharf gebremst, aber keine Chance gehabt.«
»Das stimmt nicht«, unterbrach sie ihn. »Ich bin gleichmäßig in einer Kolonne geradeaus gefahren. Etwas anderes war wegen des starken Regens auch gar nicht möglich.«
»Möglich wäre es schon gewesen«, sagte der andere Polizist. Auf einmal machten beide Carabinieri einen unfreundlichen Eindruck auf sie. »Das heißt nicht, dass es so war. Der Unfallgegner macht Ihnen allerdings die größten Vorwürfe, zumal er auch noch schwer verletzt ist.«
»Er ist schwer verletzt?« Sie war bestürzt. Sie hatte überhaupt nicht gedacht, dass jemand beim Unfall verletzt worden sein könnte. Ihre Stimmung ging gerade granatenmäßig in den Keller. »Ja, er ist am Brustkorb verletzt. Nach der ersten Diagnose möglicherweise eine Lungenquetschung oder sogar eine Wirbelsäulenverletzung«, führte der Polizist weiter aus. »Wir haben nur kurz mit ihm sprechen können. Die endgültige Diagnose stehen noch aus. Seine Aussage zum Unfallhergang ist allerdings eindeutig.«
Sie wurde blass. »Auch meine Aussage zum Unfallgeschehen ist eindeutig«, betonte sie. »Schließlich ist er auf mich aufgefahren. Nach deutschem Recht gilt: Wer auffährt, ist schuld an einem Unfall.«
»Der Unfall passierte aber nicht in Deutschland«, war die Antwort. »Näheres zur Schuldfrage werden wir erst beantworten können, wenn das Unfallgutachten vorliegt. Die Erstellung eines Gutachtens hat die Staatsanwaltschaft angeordnet«, sagte einer der Polizisten. »Der Fall hat hohe Priorität, weil Ihr Unfallgegner nicht nur möglicherweise schwer verletzt, sondern auch ein hochrangiger Politiker ist.«
Ihr blieb ja nichts erspart, dachte sie.
»Das Gutachten könnte schon im Laufe der Woche vorliegen. Wir schicken es Ihrer Versicherung, oder haben Sie bereits einen Rechtsanwalt konsultiert?«
»Nein, bei Gott, nein, warum sollte ich?«, antwortet sie. Die Beamten schwiegen.
Zum Glück hatte sie ihre Handtasche zum Frühstück mitgenommen, in der auch die Versicherungskarte war. Sie händigte die Karte einem der Beamten aus. Er notierte die Daten. Auf ihre Bitte wurde zugesagt, das Gutachten an ihre private E-Mail zu senden. Die Adresse wurde notiert.
»Kann ich auch die Daten meines Unfallgegners haben?«, bat sie. Sie erhielt einen Bogen mit den entsprechenden Informationen. Allerdings fehlte die Angabe seines derzeitigen Aufenthaltsortes. »Können Sie mir bitte noch sagen, in welches Krankenhaus man ihn gebracht hat?«, war daher ihre Anschlussfrage.
Die Beamten wurden misstrauisch. »Warum wollen Sie das wissen«, fragte der eine, »Ihr Unfallgegner ist ein wichtiger Politiker, der bestimmt nicht von Ihnen gestört werden möchte.«
»Ich möchte ihn besuchen, weil es mir leid tut, dass er verletzt wurde, auch wenn ich keine Schuld an dem Unfall trage. Das macht man in Deutschland so. Außerdem kann er vielleicht selbst entscheiden, ob er mich sehen möchte.«
Nach kurzer Diskussion der beiden Polizisten untereinander, erhielt sie eine Telefonnummer. »Das ist die Nummer der Krankenstation, auf der er liegt«, sagte einer der Beamten. »Wenn er mit Ihnen reden will, wird Sie die Stationsschwester bestimmt verbinden.«
»Waren noch Fahrzeuge an dem Unfall beteiligt, oder sind andere Personen verletzt?«, wollte sie weiter wissen.
»Nein«, war die Antwort. »Es gibt leider auch keine verwertbaren Zeugenaussagen.« Sie wurde abschließend um Mitteilung gebeten, ob sie Verletzungen erlitten habe. »Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen, aber ich habe nur leichte Schmerzen in der Schulter«, antwortete sie.
»Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie für weitere Fragen zur Verfügung stehen könnten und uns informieren würden, wenn Sie abreisen wollen«, wurde ihr beschieden. Sie nickte stumm. Die Polizisten gingen wieder.
Was für ein beschissener Tag, dachte sie. Er hatte so hervorragend begonnen, und nun das. Möglicherweise war sie auch noch schuld daran, dass jemand anderes schwer verletzt war. Und der Verletzte war nicht nur ein »hohes Tier« in der Politik, das Ganze war auch noch in einem fremden Land passiert. Na, prost Mahlzeit. Der Appetit war ihr vergangen. Ein Kaffee wäre jetzt das Richtige. Sie ging zurück in den Frühstücksraum. Von der Sonne war nichts mehr zu sehen. Die Wolken hatten ihr den Weg versperrt. Passt, dachte sie. Auf einmal hatte sich das Universum gegen sie verschworen.