Die Muse von Florenz. Manuela Terzi
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»Liebste Apollonia, was für eine schöne Überraschung«, begrüßte Dina ihren unerwarteten Gast mit einem so liebevollen Lächeln, dass Juliana nie eine Abneigung ihrer Mutter gegenüber der angeheirateten Schwägerin vermutet hätte.
Juliana straffte die Schultern und versuchte, es ihrer Mutter gleichzutun. »Tante Apollonia, ich freue mich über Euren Besuch.« Sie erntete nur einen abfälligen Blick.
»Ist dir die Seife ausgegangen, Dina? Wie das Kind herumläuft!« Schnaubend erreichte die füllige Witwe die Galerie und sah sich neugierig um. Das Schwarz ihrer Garderobe färbte seit Langem auf ihr Gemüt ab. Verdrossenheit und Neid beherrschten Tante Apollonias Wesen, deren Neugier sie auch heute nicht von boshaftem Spott abhielt. »Besitzt ihr keine Dienstboten mehr?« Sie zeigte vorwurfsvoll auf einen dunklen Fleck vor der Salontür.
Juliana erschrak. Sie hatte nach ihrer nächtlichen Flucht aus dem Gang vergessen, ihre Fußsohlen zu waschen.
»Gewiss, Apollonia. Sie werden dir gleich eine Erfrischung bringen nach dem weiten Weg, den du in dieser Hitze auf dich genommen hast. Warum hast du keinen Boten geschickt, um nach Ferdinando zu verlangen?«
»Vater kommt spät zurück, Tante Apollonia«, erklärte Juliana und warf ihrer Mutter einen Hilfe suchenden Blick zu.
Tante Apollonias Wangen glühten, doch Dina ließ sie zappeln.
»Wie geht es dir, liebste Apollonia? Das Wetter heute ist lähmend, findest du nicht auch?« Geschickt ließ sie ihren Fächer unter der Stickerei verschwinden, während Apollonia der Schweiß über die dicken Backen lief.
Juliana hatte verstanden. Sie öffnete kurzerhand alle Fenster im Salon, um der Hitze Einlass zu gewähren. Ihre Tante hasste die stickigen Tage des Sommers. Deshalb zog sie es vor, in Fiesole die Zeit bis Herbst zu verbringen. Lediglich der Wissensdurst über die Ereignisse der letzten Tage hatte sie von ihrer geplanten Abreise abkommen lassen.
Bevor Angelica, eine jüngere Dienerin, den kühlen Wein und feuchte Tücher servieren konnte, nahm Juliana den erfrischenden Stoff fort und stopfte ihn von ihrer Tante unbemerkt unter ihren Surcot. Angelicas Augen wurden noch größer, denn Dina bat darum, das Eingangsportal zu öffnen. So fände der Wind Einlass in die Casa. Ihre Mutter wusste, dass die träge Hitze des Tages nun durch alle Räume und den Vorhof fluten würde.
Tante Apollonia war einfältig. Und vor allem darauf bedacht, die Unvernunft ihres Bruders zu hinterfragen. »Was für ein Spektakel erzählt man sich auf den Straßen? Ferdinando soll betrunken gewesen sein? Ich schäme mich zu Tode, mich rechtfertigen zu müssen. Meine Freundinnen reden von nichts anderem mehr!«
Dina seufzte. »Ferdinando selbst ist nicht glücklich über den Verlauf dieses Tages. Es war ein heißer Tag. Sie hatten nicht darauf geachtet, genügend zu trinken.«
»Er ist notario, kein Trunkenbold. Dina, bei allem Respekt, ich befürchte, es fehlt dir an Entschlossenheit und Kraft, deine Familie zu führen.« Apollonia zeigte auf Juliana und packte sie an der Hand. »Nicht mal ein Waschweib vom Arno hat solch schmutzige Hände! Deinem Mann werfen sie Steine hinterher, und dann sperrt ihr euch ein … Seid ihr noch bei Verstand?«
Dina starrte auf Julianas Hände, dann wanderte ihr Blick hoch. »Steine? Juliana, ist das wahr?«
Julianas Augen füllten sich mit Tränen. Die schmerzliche Erinnerung zerriss ihr das Herz, der plötzlich verstehende Blick ihrer Mutter noch mehr. »Ich weiß nicht, was passiert ist! Ich kam aus der Kirche und Vater torkelte, weinte, schrie und …« Ihre Stimme erstarb. »Er stank wie ein Kind.«
»Warum erzählst du solchen Unsinn, Juliana?«
Erschrocken wirbelte sie herum. Hatte Vater schon lange hinter ihr gestanden? Zu lange, fürchtete sie.
Mit bleichem Gesicht betrat er den Salon und schüttelte fassungslos den Kopf. »Mein eigen Fleisch und Blut. Geh mir aus den Augen, sofort!«, schrie der notario außer sich und warf das Tablett nach Juliana, das Angelica aus Verwunderung hatte stehen lassen.
*
Benommen kehrte Juliana in ihre Kammer zurück und schloss mit zitternden Fingern die Fenster. Die Läden hielten nicht nur die Hitze fern. Das dämmrige Licht verhinderte, dass ihr sehnsüchtiger Blick etwas erspähte, das ihr fern wie nie schien. Noch immer hallte Vaters zornige Stimme in ihren Ohren nach. Sie hatte nicht gelogen! Warum nur war Tante Apollonia gekommen? Vaters Zorn verdankte sie allein dieser gehässigen alten Frau, deren verachtende Augen selbst bei der Predigt in der Kirche nicht milder wurden. Juliana schlug mit der Hand gegen die Wand. Hatte Vater diesen schrecklichen Tag gänzlich aus seinem Gedächtnis verbannt oder erinnerte er sich wahrhaftig nicht mehr daran, wie seltsam er sich gebärdet hatte? Sie bildete sich das nicht ein. Zu heftig brandete die Erinnerung an den schier unendlichen Heimweg hoch. Sogar kleine Kinder waren ermutigt worden, den Trunkenbold und seine Tochter auszulachen. Hatte Vater diese demütigenden Erlebnisse tatsächlich vergessen? Oder schämte er sich so sehr, dass er lieber tat, als wäre das nicht passiert? Dafür bezichtigte er seine eigene Tochter der Lüge? Während ihr Vater mit erhobener Stimme in Mutters Salon Gründe für das frevelhafte Benehmen seiner Tochter suchte, war ihre Seele rein.
Juliana entzündete ein Talglicht und kniete nieder. »Vergib mir, oh Herr. Ich habe gesündigt, doch ich habe nicht gelogen. Ich träume von Dario, was sich nicht gehört, deshalb lege ich all mein Vertrauen in dich. Befreie mich von diesen seltsamen Gedanken, die mein Herz gefangen nehmen. Beschütze meinen Vater vor seiner Blindheit und befreie meine Mutter von ihrer Angst, uns beide zu verlieren.«
Es dauerte bis in den Nachmittag hinein, bis sich ihr Vater endlich beruhigte. Julianas Magen knurrte inzwischen. Hatte man sie vergessen oder weitete Vater seine Strafe aus, indem er ihr das Abendbrot verweigerte? Unruhig wanderte sie durch das Halbdunkel ihrer Kammer und überlegte, ob Vaters Zorn wohl länger anhielt. Bislang hatte sie ihm kaum Anlass gegeben, über ihr Verhalten zu klagen oder sie gar zu strafen. Die kleinen Ausflüge, die sie ohne sein Wissen wagte, waren kaum der Rede wert. Seit Kurzem begehrte sie gelegentlich auf und wollte ihre eigene Meinung kundtun, wissen, was in den Straßen vor sich ging. Nicht wie ihre Cousinen den ganzen Tag Tante Apollonias Geschwätz ertragen und unsägliche Dinge tun wie Sticken, weil es der Anstand gebot.
Beim Läuten der Abendglocken hielt sie es nicht länger in der engen Kammer aus und spähte auf den Flur. Es war still im Haus. Zu still für diese Zeit. Wenn niemand mehr mit ihr über die cupola und das, was vorgefallen war, sprechen wollte, musste sie nach einem anderen Weg suchen.
Angetrieben von den zornigen Worten ihres Vaters, verspürte sie den Drang, dem capomaestro zu helfen, der von den Tiraden gegen ihn nichts ahnte. Sie wollte die cupola mit eigenen Augen sehen, irgendwann. Bis dahin musste das Modell genügen. Vielleicht gab es ein Geheimnis, das sich dahinter verbarg? Vater gelang es, Menschen für sich einzunehmen, und ebenso leicht brachte er sie gegen sich auf. Warum in Gottes Namen reagierte er so feindselig, wenn die Sprache auf Brunelleschi kam?
Ein paar Schritte später verharrte sie vor dem Arbeitszimmer ihres Vaters. Da sich niemand zeigte, der sie daran hindern konnte, trat Juliana über die Schwelle und schloss sanft die Tür. Sie wusste, dass sie unrecht tat. Es schnürte ihr den Hals zu, doch ließ man ihr eine Wahl? Sie öffnete die Schranktür und starrte auf die unzähligen dicken Bücher, die dicht an dicht aneinandergereiht waren. In Leder gebunden, unbarmherzig mit Schnüren festgezurrt, damit keines der Schicksale verloren ging. Ein Schauer lief über ihren Rücken. Spielte Vater nicht ebenso wie der capomaestro Gott? Die leicht verkohlten Pläne lagen unberührt auf dem Tisch.