Personalentwicklung im Bereich Seelsorgepersonal. Christine Schrappe
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Menschen suchen je nach individuellen Bedürfnissen wechselnde und unterschiedliche Formen des Christseins, zunehmend auch an Orten jenseits von Pfarrgemeinden. „Letztere können den differenzierten Bedarf aufgrund ihrer eingefahrenen Strukturen bzw. Praxisformen und vor allem aufgrund ihrer territorialen Bindung an einen Ort nicht befriedigen; sie haben ihre Funktion als zentraler Ort religiöser Praxis verloren. Die Pfarrei-Seelsorger versuchen zwar angesichts dessen, ihr Angebot zu vermehren oder die Attraktivität desselben zu erhöhen, erleben aber umso mehr Frustration.“56
Der soziokulturelle Trend des Clanning zeigt gerade, dass „nicht Gemeinschaft schlechthin dem Individualisierungstrend anheimgefallen ist, sondern neue Formen der Gemeinschaftung gesucht und realisiert werden.“57 Kirchliche Rollenträger legen auch selbst Wert auf die eigene individualisierte Lebensform, wollen sich selbst immer weniger in „familiare“ Kirchenstrukturen auf Pfarrei-, Verbands- oder Diözesanebene einbinden lassen, leiden unter mangelnden Freiräumen für die eigene Person und Familie und schätzen nationale und internationale Vernetzungen, um den Blick zu weiten.
„In Zukunft werden Sozialformen christlichen Lebens bzw. kirchlicher Praxis, die eine spezifische Lebensform im Blick haben, auf steigende Nachfrage treffen, weil sie den ausdifferenzierten Lebensorten der Menschen heutiger Gesellschaft entsprechen. Daher wird neben der klassischen Kirchengemeinde eine Vielfalt kirchlicher Sozial- und Organisationsformen notwendig werden. Die praktisch-theologische Konzeption von Gemeinde wird sich wohl noch mehr als bisher darauf einstellen müssen, dass diese Pluralität der Sozialformen eine Normalität der gesellschaftlichen Präsenz von Kirche und christlichem Glauben darstellt.“58
Es ist selbstzerstörerisch und demotivierend, nach jeder mager besuchten Veranstaltung aufs Neue den „fetten Jahren“ und den „Schlaraffenländern“ der Pastoral nachzutrauern. Manche Kerngemeinde versteht sich selbst als kleine aufrechte Widerstandstruppe und fühlt sich vom hauptberuflichen Personal verraten, wenn dieses eine weitere Perspektive einbringt. Gemeindeleitung meint nicht nur die Erledigung formaler Leitungsaufgaben, sondern das Aufzeigen pastoraltheologischer Perspektiven. Die Fixierung auf die Gemeindepastoral muss aufgelockert werden; man muss sich ohne Abwertung der „punktuell Aktiven“ auch den pastoralen Zwischenräumen und Gelegenheitsstrukturen in der Pastoral widmen. Die Leitungspersonen müssen Gemeinden darauf vorbereiten und Zukunft aufzeigen.
Der Pfarrer muss sich nicht schämen für den Rückgang der aktiven Gemeindemitglieder. Der Gemeindeverantwortliche darf sich nicht treiben lassen zu immer neuen und teilweise peinlich anmutenden Versuchen, ein familiäres Gemeindebild aufrecht zu erhalten. Seelsorger müssen zur Vielfalt individueller Biographien ein positives konstruktives Verhältnis entwickeln. Die Individualisierung lediglich als bequemen Rückzug des Einzelnen zu verteufeln, wird diesen gesellschaftlichen Phänomenen nicht gerecht. Personalentwicklung hat hier den Auftrag, Frustration in proaktive Such- und Lernerfahrung umzuwandeln, Erfahrungen theologisch zu deuten und das Suchpotenzial kreativ zu nutzen.
2.4 Die unbekannte Mehrheit – „Kasualienfromme“ als Anfrage an Seelsorgekonzepte
Ein immer größer werdender Teil der getauften Katholiken erfüllt offenkundig die für Katholiken bestehende, in can. 1247 CIG 1983 normierte Sonntagspflicht nicht mehr. Die Mehrheit der Katholiken – so die Untersuchung der sog. „kasualienfrommen“ Christen – betrachtet weder die Eucharistie als Quelle und Höhepunkt ihres eigenen religiösen Lebens, noch hält sie kontinuierlichen Kontakt zum kirchlichen Sozialraum.59
In der Erzdiözese Bamberg wurde zusammen mit dem „Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur“ der kulturwissenschaftlichen Fakultät in Bayreuth eine Untersuchung durchgeführt, die einen tiefen Einblick in die Lebens- und Glaubenswelt von Katholiken bietet. „Die wichtigste Erkenntnis dieser Studie liegt wohl darin, deutlich gemacht zu haben, dass Menschen, die sich äußerlich vom kirchlichen Milieu deutlich distanzieren, dennoch latent ein Leben führen, das vom Glauben und Wirken der Kirche (Gottesvorstellung, Gebet, Moral, Einstellung zum Leben und Sterben etc.) geprägt ist. Diese Katholiken aktualisieren punktuell an den Lebenswenden oder bei besonderen Ereignissen in und mit der Kirche ihr Katholischsein. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn Elemente kirchlich-christlicher Erziehung als ‚schöne Erinnerung‘ präsent sind.“60 Ein Großteil der Katholiken nimmt nicht mehr am intensiven Angebot gemeindlichen Lebens teil, hat aber großes Interesse, an Lebenswenden und zu bestimmten Anlässen kirchliche Begleitung zu erhalten. Diese „unbekannte Mehrheit“ der Katholiken, die „Kasualienfrommen“, sind für die Kirche eine pastoraltheologische Herausforderungen. Die Kirche funktioniert offenbar anders, als sie sich selbst definiert. Zentrales Merkmal der untersuchten Gruppe und der Grund, sie zu erforschen, ist die Tatsache, „dass sich die kasualienfrommen Christ/inn/en klassisch-vorkonziliaren wie nachkonziliaren gemeindeorientierten Konzepten der Kirchenbildung entziehen, ohne freilich jeglichen Kontakt zur Kirche aufzugeben. Sie nutzen die Kirche also in anderer Weise, als diese es möchte.“61 Für das Seelsorgepersonal in den Pfarreien bedeutet Kasualienfrömmigkeit eine Infragestellung des eigenen Auftrags. Die katholische Kirche – so wünschen es vor allem die in ihr tätigen Gemeindeseelsorger – möchte als Gemeindekirche funktionieren, wird aber von der Mehrheit der getauften Gemeindemitglieder als rituelle Lebensbegleitungskirche genutzt.
Schmerzhaft ist dabei der Abschied von der stillschweigenden Vorstellung, „innerhalb der Kirche gäbe es, bei allen sündenbedingten Abweichungen, nur glaubenskonforme Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen.“62 Zwei Reaktionsmechanismen sind in diesem Fall typisch für viele Abwehrhaltungen gegenüber Veränderungen in der Glaubenspraxis der Mitglieder: Zum einen besteht die Gefahr, die erhobenen Handlungsintentionen und Handlungsinterpretationen zu „taufen“ und damit in die bestehenden Normalinterpretationen der kirchlichen Kasualien einzuordnen. Ebensolches geschieht im Umgang mit außerchristlichen Spiritualitäten, welchen dann im weitetesten Sinne christliche Handlungsintentionen zugedeutet werden, um z.B. esoterische Heilungs- oder Selbsterlösungspraktiken als Angebot der Erwachsenenbildung in einem katholischen Bildungshaus zu legitimieren. Eine Vereinfachung im Umgang mit Kasualienfrommen wäre aber auch die heimliche Disqualifizierung derer, die an Weihnachten mit festen liturgischen Vorstellungen die Christmette besuchen oder eine traditionelle Hochzeit sehr feierlich wünschen.
Ein anderer Reaktionsmechanismus im Umgang mit Veränderungen ist die „Exkommunikation“ der „Abweichler“ um sich mit den „Abtrünnigen“ nicht auseinander setzen und sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen. Beide Abwehrstrategien bestimmen das gegenwärtige Bild kirchlichen Handelns angesichts neuer Phänomene der Spiritualität und Lebensform. Das Verständnis des „Katholischseins von der Wiege bis zur Bahre“ ist für viele Katholiken nicht mehr gültig. Kirchenmitgliedschaft und Teilnahme am kirchlichen Leben gehören für viele getaufte Gemeindemitglieder nicht selbstverständlich zusammen.
Die Entscheidung kirchendistanzierter Menschen anlässlich wichtiger Lebenspassagen den Kontakt mit ihrer Kirche und den Sakramenten zu suchen, ist Ausdruck der Hoffnung, Lebensdeutung an den Übergängen, Schutz, Segen und Halt zu finden. Dieses „Sympathisanten-Umfeld“ sieht im Priester vorrangig die sakramental-mystagogische Kompetenz. Die Dimension des Heiligen und des Geheimnisses wird gerade in Grenzerfahrungen in bestimmten kultisch-liturgischen Zeichen, Gesten, Handlungen vergegenwärtigt. Es handelt sich um ernsthafte und eigenständige Konzepte der Sinngebung und Lebensbewältigung, die sich im Unterschied zu früheren katholischen Frömmigkeitsentwürfen von der Kirche (als Institution) weitgehend gelöst haben und im privaten Bereich verortet werden. Auch wenn die kasuale (Wieder-)Begegnung mit der Kirche als positiv geschildert wird, kommt es nicht mehr zu einem dauerhaften Kontakt. Die „kirchlich-kasuale“ Beteiligung ist für viele ein integraler Bestandteil eines umfassenden Frömmigkeitsentwurfes.
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