Herausforderungen für die Berufsbildung in der Schweiz. Markus Mäurer
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Im Wesentlichen lassen sich zwei Ebenen von Normen und Institutionen bzw. Regeltypen unterscheiden (vgl. Knoepfel et al., 2011). Konkret handelt es sich um:
1. die konstitutionelle Ebene: Regeln, die in der Verfassung verankert sind
Verfassungsregeln haben Gültigkeit für die Gesamtheit aller öffentlichen Politiken im Staat und dienen der Festlegung der Rahmenbedingungen einer demokratischen Austragung konkreter Interessenkonflikte. Ihrer Kodifizierung auf Verfassungsebene entsprechend, sind solche Regeln vergleichsweise stabil. Rahmengebend für die Berufsbildungspolitik sind etwa Bestimmungen zur Staatsform und zum Verhältnis zwischen Gesamtstaat und Gliedstaaten, das Subsidiaritätsprinzip, aber etwa auch die Verflechtung von Wirtschaft und Staat.
2. Regeln der Verwaltungsorganisation
Eine Stufe tiefer bestimmen institutionelle Regeln die Verwaltungsorganisation. Verwaltungsorganisationen existieren in der Berufsbildung sowohl auf Bundes- wie auf kantonaler Ebene, aber auch im parastaatlichen Bereich. Formelle und informelle Regeln des Einbezugs parastaatlicher Akteure und korporatistischer Interessenträger sind hier von zentraler Bedeutung.
Die aktuelle und gegenwärtig noch in Umsetzung begriffene Reform der Berufsbildung nahm ihren Ausgangspunkt in Problemwahrnehmungen Mitte der 1990er-Jahre und mündete in das neue Bundesgesetz über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, BBG) von 2002. Ein Kernanliegen dieser Reform bezieht sich auf die Optimierung der Steuerung der Berufsbildung. Die jüngste Berufsbildungsreform ist damit, bezogen auf die Steuerungsthematik, in zweifacher Hinsicht ein interessanter Untersuchungsgegenstand: Einmal lässt sich anhand des Reformprozesses nachvollziehen, welche institutionellen Regeln und Akteure die berufsbildungspolitische Arena und damit die Entwicklung des Systems massgeblich prägen. Zum anderen enthält das neue BBG als wesentliches Ergebnis der Reform eine Reihe neuer Steuerungsnormen, vor allem auch dort, wo es die Kompetenzen der «Verbundpartner» definiert.
Im Untersuchungsgang dieses Beitrags wird die Revision des Gesetzes damit als Transformation steuerungsrelevanter institutioneller Regeln aufgefasst. Zur Disposition stehen dabei in erster Linie Regeln der zweiten Ebene und der nachgeordneten berufsbildungsspezifischen Behördenarrangements, während die Regeln der ersten Ebene die prozeduralen Leitplanken vorgeben.
Die in der Berufsbildung als einem spezifischen Politikfeld massgeblichen Verfassungs- und Verwaltungsregeln sollen als Erstes zur Darstellung gelangen. Der Frage, welche Akteure und institutionellen Regeln das Zustandekommen des neuen Normtextes – des BBG von 2002 – in welcher Weise gesteuert haben, ist das folgende Kapitel gewidmet. Hier wird also untersucht, wie Berufsbildungspolitik in der Gegenwart «gemacht» wird. Der materielle Gehalt des BBG 2002 mit Fokus auf die neuen steuerungsrelevanten Bestimmungen ist Gegenstand des daran anschliessenden Kapitels. Ein zentrales Steuerungselement bilden die Verordnungen über die berufliche Grundbildung (Bildungsverordnungen, BiVos; früher Ausbildungsreglemente), deren Erneuerung das BBG anordnet. Der Prozess der Ausgestaltung dieser Normtexte, die am Beispiel der MEM-Berufe analysiert wird, ist weitgehend geprägt durch formelle und informelle Verwaltungsregeln und Behördenarrangements. Diese haben in jüngerer Vergangenheit einige Änderungen erfahren. Verwaltungs- und Vollzugsverfahren sind oftmals unterhalb der Ebene demokratischer Legitimation angesiedelt; Revisionen sind somit möglich, ohne dass sie einen Niederschlag in Gesetzen, Verordnungen und ähnlichen Rechtsdokumenten finden müssen. Da sich die verbundpartnerschaftliche Zusammenarbeit mitunter gerade in diesem Raum abspielt, sind auch die entsprechenden formellen und informellen Praxen von solchen Änderungen massgeblich betroffen. Wenn im aktuellen BBG, in politischen Verlautbarungen und Stellungnahmen also die «Verbundpartnerschaft» beschworen wird – so lässt sich folgern –, ist damit noch relativ wenig über den realen Einfluss der einzelnen Akteure auf die Ausgestaltung der Berufsbildung gesagt. Daraus ergeben sich Herausforderungen für die gegenwärtige und zukünftige schweizerische Berufsbildung, die im abschliessenden Kapitel skizziert werden.
Institutionelle Grundregeln schweizerischer Berufsbildungspolitik
Es sind vor allem drei Grundregeln institutioneller Politik, welche die schweizerische Berufsbildungspolitik konfigurieren und «Verbundpartnerschaft» zu einem Lösungsansatz des Interessenausgleichs machen:
a. Föderalismus (und Subsidiarität) als politisches Ordnungs- und Vollzugsprinzip;
b. Korporatismus im Sinne einer traditionell starken Einbindung parastaatlicher Organisationen;
c. Konkordanzprinzip und Konsensdemokratie.
Im Gegensatz zur obligatorischen Schule ist für die Berufsbildung in der Schweiz bekanntlich der Bund zuständig; dies gilt seit Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung von 1999 mit dem neuen Artikel 63 (Abs. 1) sogar für sämtliche nicht akademischen Berufe (Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 1999).
Diese Kompetenzzuweisung geht auf das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert zurück und steht für den historischen Entscheid, die Berufsbildung nicht der Logik des Unterrichtssystems, sondern derjenigen der Arbeitswelt zuzuordnen (Berner et al., 2011). Bestrebungen, das Lehrlingswesen gesamteidgenössisch zu regeln, orientierten sich nämlich während Jahrzehnten an dem Vorhaben, eine schweizerische Gewerbeordnung einzuführen (Berner et al., 2011). Dieses Projekt scheiterte jedoch in der Volksabstimmung von 1894 zunächst an der Ablehnung eines Verfassungsartikels, der dem Bund die entsprechende Gesetzgebungsbefugnis übertragen hätte. 1908 wurde der Gewerbeartikel1 im zweiten Anlauf dann doch angenommen. Die anschliessende Ausarbeitung eines Gesetzes über die berufliche Ausbildung stand noch in dieser Linie der Ereignisse und Entscheidungen (Berner et al., 2011); am Ende waren sich Vertreter aus Politik und Wirtschaft schnell darin einig, statt einer allgemeinen Gewerbeordnung – die Gewerbeschutz, Arbeiterschutz und Lehrlingswesen umfasst hätte – separate Gesetze zu entwerfen und dabei dem Lehrlings- bzw. Berufsbildungsgesetz Priorität einzuräumen. Der Erste Weltkrieg und die anschliessende Rezession liessen dieses Projekt über zwanzig Jahre in Anspruch nehmen.
(Vollzugs-)Föderalismus
Trotz der Zuständigkeit des Bundes ist die Berufsbildung aber ein typisches Beispiel für den schweizerischen Vollzugsföderalismus (Germann, 1997); das heisst, der Gesetzesvollzug und die Umsetzung mittels Erlass von Ausführungsbestimmungen und Benennung der zuständigen Behörden liegen in der Berufsbildung – wie dies bei Bundesgesetzen häufig der Fall ist – überwiegend bei den Kantonen. Damit korrespondiert der hohe Allgemeinheitsgrad der Berufsbildungsgesetze auf Bundesebene (Rahmengesetz). Diese Texte enthalten vor allem Delegationsnormen und allgemeine Zielformulierungen, während die Details über Verordnungen, die kantonale Gesetzgebung und im administrativen Vollzug geregelt werden. Bedeutsam im Kontext der Steuerungsfrage ist hierbei, dass Akteure aus dem Bereich der Verwaltung häufig mit der Interpretation, der Implementation und dem Vollzug rechtlicher Normen konfrontiert sind und ihnen somit eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Ausgestaltung und Veränderung von Institutionen zukommt (Mahoney & Thelen, 2010).
Korporatismus
Neben der Delegation von Vollzugsaufgaben an die Kantone verbindet sich mit dem Vollzugsföderalismus