Die wilde Reise des unfreien Hans S.. Martin Arz
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Читать онлайн книгу Die wilde Reise des unfreien Hans S. - Martin Arz страница 9
Eines Tages, als Hans – höchst ungewöhnlich für ihn – trüben Gedanken nachhing und vor Heimweh Brustbeklemmung bekam, fragte er Yorick, um sich abzulenken: »Weißt du, was mit meinen Freunden geworden ist? Max und Josef?«
»Josef war der dumme, oder?« Yorick zuckte mit den Schultern. »Wenn er überlebt hat, dann wird er wohl auch hier irgendwo im Turm sein. Und Max war der, der so gut Laute spielen konnte? Komm mal mit.« Yorick half Hans auf. Sie durchquerten die große Zelle. Hans vermutete, dass um die hundert Gefangene ihr Schicksal teilten. Eben stand die Zellentür offen, bewacht von türkischen Soldaten. Wie jeden Tag am späten Vormittag wurden die Toiletteneimer ausgewechselt. Man hatte die Gefangenen in verschiedene Dienste eingeteilt, Essen verteilen, Stroh erneuern, Notdurfteimer wegbringen. Die Dienste wechselten täglich. Ausgenommen waren nur die Verwundeten. Einer, der einen Toiletteneimer mit stoischem Blick zur Tür trug und dort einen leeren in Empfang nahm, kam Hans bekannt vor. Aber das konnte nicht sein. Max war kaum wiederzuerkennen. Spindeldürr, mit hängenden Schultern, leerem Blick und schmalen Lippen schlurfte Max an ihm vorbei.
»Max.« Hans packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich bins.«
Max hob kurz den Kopf und starrte durch ihn hindurch, dann versuchte er seinen Weg fortzusetzen.
Yorick zog vorsichtig Hans’ Hände weg. »So ist er seit der Schlacht«, sagte Yorick nüchtern. »Er redet nicht mehr. Überhaupt reagiert er nicht mehr. Er hört wohl, was man sagt, und macht alles, was man ihm sagt, aber er reagiert einfach nicht mehr wie ein Mensch. Ein lebender Toter.«
»Ein lebender Toter.« Fassungslos ließ Hans die Arme sinken. »Aber, Max …«
Max stellte den leeren Eimer in die Notdurftecke, schlurfte dann an seinen Platz, wickelte sich in die grobe Decke, die jeder von ihnen bekommen hatte, und setzte sich hin. Er wiegte leicht den Oberkörper vor und zurück, rührte sich ansonsten nicht weiter.
Hans taumelte zurück zu seinem Platz. Über das Grauen, das sie überlebt hatten, hatten sie nie auch nur ein Wort verloren. Es war einfach Teil ihres Lebens, Teil von Gottes unergründlichem Plan. Seit Beginn der Schlacht gab es für Hans nur noch das diffuse, gewaltige Rauschen, in dem alle Erinnerung verschwand. Er sackte an seinem Platz zusammen und gab sich dem heulenden Elend hin, das ihn übermannte. Das letzte Mal hatte er so geheult, als seine Mutter gestorben war. Sieben Kinder hatte sie zur Welt gebracht, davon hatten immerhin drei die ersten Jahre überlebt. Hans, sein älterer Bruder Mathis und seine kleine Schwester Maria. Die Geburt des achten Kindes überlebten weder die Mutter noch das Baby.
Yorick setzte sich daneben und schwieg, bis es vorbei war.
Während der zwei Monate im Turm von Gallipoli veränderte sich die Stimmung unter den Gefangenen. Aggressionen brachen aus. Die Verwundeten ließ man weitgehend in Ruhe, Hans sowieso, denn er gehörte zu den Älteren, und man wusste, dass er sich im Kampf wie ein Mann geschlagen hatte. Er galt als ›Türkenfresser‹, hatte er doch mindestens fünf Türken getötet. Dennoch wünschte sich Hans, dass Josef noch bei ihnen wäre, denn der hatte sich nie gescheut, ordentlich zuzuschlagen. Auch um Yorick machte man einen Bogen, denn der war größer als alle anderen, und wenn er nicht bei Hans war, hing er mit ein paar flämischen Jungs herum, die sich zu wehren wussten. Schnell entstanden aus Nichtigkeiten brutale Schlägereien. Die türkischen Wachen gingen nicht immer dazwischen. Je nach Lust und Laune. Banden rotteten sich zusammen, meist nach Herkunftsländern. Eine Gruppe von Spaniern aus Kastilien mit ihrem Anführer, einem sehnigen fünfzehnjährigen Burschen mit gebrochener Nase, den alle nur Don Juan nannten, genoss bald den größten Respekt. Don Juan, der stets betonte, er sei Juan Gonzáles de Clavijo, und hätte aufgrund seines Standes überhaupt nichts bei den einfachen Knappen verloren, sondern würde zu den Edlen gehören, terrorisierte mit Vorliebe die Jüngeren und Schwächeren. So pinkelte er in das Essen eines kleinen Italieners und zwang ihn anschließend, alles runterzuschlucken.
Einmal ging Yorick dazwischen, als Don Juan einen kleinen Buben in der Mangel hatte. Don Juan packte den Jungen am Hals, hielt ihm seinen Penis vor die Nase und drohte, ihm damit sein Maul zu stopfen. Hans verstand zwar kein Spanisch, aber was er sah, ließ nicht viel Interpretationsspielraum. Obwohl der kleine Junge kein Flame war, griff Yorick ein. Eine Keilerei entstand, doch bevor ein wirklicher Kampf losgehen konnte, flog die Tür auf. Ein türkischer Edelmann mit prächtiger golddurchwirkter Kleidung und üppigem schwarzen Vollbart betrat mit drei Wachen den Saal. Ein Bär von einem Mann, nicht groß, nicht fett, eher gewaltig. »Was für ein Prackl«, entfuhr es Hans.
»Was ist denn ein Prackl?«, fragte Yorick.
»Ein Mordstrumm Kerl. Ein Prackl eben.«
Die Wachen bedeutenden den Jungen, sich aufzustellen. Der Edelmann schritt durch den Raum, ein parfümiertes weißes Tuch vor der Nase wedelnd, ließ seinen musternden Blick auf manchen Burschen länger liegen als auf anderen. Manche mussten sich ausziehen und vor ihm drehen. Wie auf dem Viehmarkt. Yorick wurde fast unwohl, so lange prüfte ihn der Edelmann. Dann verließ der Herr samt Gefolge die Zelle.
»Was sollte das jetzt?«, fragte Yorick. Keiner wusste eine Antwort.
»Das ist noch nicht vorbei«, zischte Don Juan zu Yorick in Anspielung auf ihre unterbrochene Auseinandersetzung. Hans wunderte sich erst, dass er nun plötzlich Spanisch verstand, dann begriff er, dass Don Juan Türkisch gesprochen hatte. Man hatte eine gemeinsame Sprache.
Tage später versuchte Don Juan, Hans und Yorick zu provozieren, indem er Max am Genick packte und den Kopf in einen Urineimer steckte. Herausfordernd sah er zu Hans und Yorick herüber. Max ließ alles wie üblich katatonisch über sich ergehen. Zunächst. Hans und Yorick stürzten herbei. Die anderen Deutschen und Flamen rotteten sich solidarisch hinter den beiden zusammen. Einer von Don Juans Burschen trat ohne Vorwarnung nach Hans’ linkem Oberschenkel, gezielt auf die Verletzung. Hans knickte weg, die fast verheilte Wunde platzte wieder auf. Yorick ballte die Fäuste und wollte sich auf den Angreifer stürzen, da geschah etwas Unerwartetes. Don Juan schrie plötzlich hysterisch vor Schmerzen auf. Max, der nun seinen Kopf aus dem Eimer zog, hatte blitzschnell mit der rechten Hand unter Don Juans weißes Kuttenhemd gefasst und hielt die Genitalien des Gegners fest umklammert. Don Juan wand sich wimmernd und die Heilige Jungfrau Maria anrufend, was Max nur antrieb, noch erbarmungsloser zuzudrücken. Urin tropfte von seine Haaren und rann über das Gesicht, das keinerlei Gefühlsregung zu erkennen gab. Max behielt seinen Griff bei, zog Don Juan mit der freien Hand an den Haaren hoch und tunkte seinen Kopf in einen Koteimer. Don Juans Schreie erstickten zu einem Gurgeln. Dann ließ Max urplötzlich los, stand auf und setzte sich, als wäre nichts gewesen, an seinen Stammplatz, den Oberkörper leicht nach vorne und hinten wiegend. Don Juan, spuckend und keuchend, wischte sein Gesicht am Hemd eines seiner Speichellecker ab und stieß brutale Flüche aus. Fortan hatten Hans, Yorick und Max Ruhe. Nur die Wunde am linken Oberschenkel musste erneut versorgt werden. Hans konnte Max dazu bewegen, seinen alten Stammplatz aufzugeben, und sich zu ihm und Yorick zu legen. Er hatte mit Schwierigkeiten gerechnet, doch es war ganz einfach. Max folgte ihm wie ein Hündchen.
Eines Tages erschien ein Trupp schwer Bewaffneter und befahl allen Gefangenen, ihnen sofort zu folgen. Man führte sie aus dem Turm. Nach Wochen im Halbdunkel der Zellen brannte die Sonne in den Augen. Geblendet stolperten die Gefangenen an die nahen Klippen des Meeres. Dort mussten sie sich entlang der Felsen aufstellen und zum Meer hinausblicken. In der Ferne tauchten einige Schiffe auf und kamen schnell näher. Zu seinem Erstaunen bemerkte Hans, dass nicht nur die einfachen Gefangenen angetreten waren, sondern auch die Edelmänner. Coucy, Bar, d’Eu, Tremoille, Marschall Boucicaut, Johann Ohnefurcht und wie sie alle hießen.
Ein irrer Gedanke durchzuckte Hans. Wenn er jetzt die Klippen hinunterspringen würde … zu den Schiffen schwimmen … Flucht … Er war nicht der Einzige, der daran dachte. Zwei Burschen hechteten los und ließen