Im Auto um die Erde. Max Reisch
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Noch zittert die Kuppel der Moschee von En Nedschef in weiter Ferne im Sonnenglast, aber schon fahren wir zwischen Tausenden und Tausenden von Gräbern hindurch, ein unabsehbarer Friedhof, der in zwei Kilometer breitem Gürtel die Stadt umsäumt. Völlig ungeordnet liegen flache Grabsteine eng nebeneinander, dazwischen Mausoleen aus Ziegeln oder gebrannten Kacheln in Form einer Miniatur-Moschee. Armselige Ruhestätten, reichere, prunkvolle, darin ein Meer von Toten, alle gleich in der Hoffnung, an diesem Ort das Heil zu finden.
Glühendrot, keine Kugel, sondern ein seltsam abgeplatteter Ball, versinkt die Sonne eben am Horizont, als wir vor dem Nordtor von En Nedschef halten. Es ist zu eng, um dem Wagen Einlass zu gewähren, und ein Polizist in sauberer Khakiuniform bringt uns zum Polizeigebäude außerhalb der Stadtmauern. Wie eine kleine Festung liegt es mitten zwischen den Gräbern. Der junge Kommandant ist stolz auf sein Englisch, stolz auf den Telegraphenapparat, der ihm unsere Ankunft bereits gemeldet hat, stolz auf das Festmahl, das er uns zu geben die Absicht hat. Wie freut er sich aber, wie freuen sich seine Soldaten, als wir den erlegten Waran dazu beisteuern, der in diesen Breiten als ganz besonderer Leckerbissen gilt.
Während wir so im Hof unter freiem Himmel tafeln, hören wir hinter uns militärischen Marschtritt und dann ein lautes »Habt Acht!«
Haben wir recht gehört?
Eine Musikkapelle ist aufmarschiert. Der Kommandant der Festung gibt ein Zeichen und die Kapelle schmettert los. Es war nicht leicht zu erraten und manche arabische Dissonanz mischte sich hinein, aber es war »Fest steht die Wacht am Rhein …« Wir waren sehr überrascht und der Kapellmeister grinste von einem Ohr zum anderen. Dann spielte er »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus …«
Wir sangen mit und die allgemeine Begeisterung kannte keine Grenzen. Der Herr Chefmusikus hatte bei den Türken gedient, diese wieder hatten im Ersten Weltkrieg, offenbar auch auf musikalischem Gebiet, deutsche Instruktoren gehabt und so waren die vertrauten Klänge bis in die arabische Wüste vorgedrungen. Wir versuchten uns für diesen Gruß aus der Heimat mit dem jüngsten heimatlichen Schlager: »Wir Kameraden der Berge« zu revanchieren. Ob es gut war, weiß ich nicht, einen Beifall hatten wir jedenfalls wie zwei Operntenöre.
Inzwischen ist längst die Nacht hereingebrochen, eine jener tief blauen, sternenübersäten Orientnächte, die flimmernd die dunkle Silhouette der Moscheenkuppel und der vier schlanken, hohen Minarette umschließen. Unter dem Sternenzelt, mitten unter den Soldaten, betten wir uns im Hof der Polizeistation zur Ruhe. Das ist gut so, denn an keinem anderen Ort in dem heiligen En Nedschef wäre es ratsam …
Unter polizeilicher Bedeckung wandern wir am nächsten Tag in die Stadt vor das goldbeschlagene Tor der Moschee des Kalifen Ali. Aber unseren Begleitern ist erst wohl zumute, als wir mit ihnen in den Basaren untertauchen. Zu drohend waren die Mienen der Priester, die das Tor der Moschee bewachten, und es ist gar kein Zweifel, dass man jeden Versuch, dort einzudringen, schmerzlich büßen müsste. Nur weil sie photographische Aufnahmen machten, sind Europäer hier sogar ums Leben gekommen.
Wir sind sehr erfreut, dass eine Karawane, die draußen vor den Toren der Stadt lagert, keine Bedenken trägt, sich im Bild verewigen zu lassen. Bei den jungen unverschleierten Mädchen siegt die Neugier über die Scheu. Ihr Gang ist ein schönes, wiegendes Schreiten und sie sehen prachtvoll aus mit ihren dunklen, brennenden Augen und fein geschnittenen Zügen, mit goldenen Ohrringen und einer goldgefassten Perle im Nasenflügel als einzigem Schmuck. Abstoßend hässlich allerdings sind die alten Beduinenfrauen und sie wehren sich (mit Recht) kreischend gegen jeden Versuch, sie zu photographieren.
Noch wird ringsum über Feuern aus Kamelmist gekocht und auf flachen, erhitzten Steinen Brot gebacken. Noch sind die Lasten und Sättel um das Lager aufgestellt und die Kamele – darunter weiße, sehr wertvolle Rennkamele – an den Vorderbeinen gefesselt, aber am Abend soll die Karawane losmarschieren, in Richtung Innerarabien, nach Mekka, das nahezu elfhundert Kilometer entfernt liegt! In sechsunddreißig Tagen will sie ihr Ziel erreicht haben.
Wir aber kehren nach Bagdad zurück.
Es war nicht kühler geworden in der Stadt Harun al Raschids und begeistert ließen wir uns im Motorboot des Konsulats den Tigris hinauffahren, sprangen ins Wasser und trieben mit den Wellen stromab. Viele Europäer erfreuten sich dieser Erfrischung – aber wenige werden dabei solches Pech haben wie ich. Beim Schwimmen verspürte ich plötzlich einen heftigen Riss und schon färbte sich das Wasser ringsum verdächtig rot. Ich konnte gerade noch das Ufer erreichen und wurde dort mit einer langen, klaffenden Wunde am Bauch herausgezogen. Was war geschehen? Hatte sich ein Haifisch aus dem Persischen Golf in den Tigris verirrt, was selten, aber doch vorkommen soll? Nein, meine Verletzung hatte eine »technische« Ursache. Ich war beim Schwimmen dem Ufer zu nahe gekommen, knapp unter Wasser hatte sich dort ein aufgeschnittener Benzinkanister mit zackigen Rändern verfangen und mir die hässliche Wunde beigebracht. Ich musste genäht werden und zehn Tage in Rückenlage verbringen. Da konnten auch Thermosflaschen voll Eiscreme, mit denen Helmuth mich zu trösten versuchte, meine Laune nicht heben.
Zu allem Unglück kam die Nachricht auch noch in die Wiener Zeitungen – ich weiß bis heute nicht, wie. »Max Reisch in Bagdad verunglückt«, so lautete die fette Überschrift über dem großen Dreispalter. Das hatte gerade noch gefehlt, um der Expedition den letzten Kredit zu nehmen.
Durch den Iran
War dieser Unfall im Tigris wirklich ein Unglück? Zehn Tage wurden wir durch meine Verwundung in Bagdad aufgehalten und retteten dadurch unser Leben. Es war Schicksal, höhere Fügung, Fatum, Kismet – die Vorbestimmung allen Lebens und Sterbens, wie es Allah bestimmt und Mohammed gepredigt hat.
Ich hatte einen guten Freund in Indien, Lativ Hamid, der bei unserer Motorradfahrt damals sogar die Lichtmaschine versteckt hatte, weil er fand, wir müssten noch ein paar Tage länger bei ihm bleiben. Es war selbstverständlich, dass ich ihn in Quetta wieder besuchen würde. Wir hatten uns häufig geschrieben und er wartete auf unsere Ankunft. Wegen des Unfalls in Bagdad kamen wir verspätet in Quetta an. Vier Tage zuvor hatte das größte Erdbeben des Jahrhunderts die Stadt dem Erdboden gleichgemacht. Zehntausend Tote! Die englischen Soldaten halfen uns, aber wir fanden nicht einmal die Straße, in der Lativs Haus gestanden hatte.
Ich war sehr traurig und sehr nachdenklich. Meine Gedanken kehrten zurück nach Bagdad, wo ich missgelaunt im heißen Spital gelegen hatte. Wäre mir das damals erspart geblieben, so läge ich heute unter den Trümmern von Quetta.
Einen dicken Verband habe ich noch um den Bauch, als wir Bagdad verlassen, aber lieber kleine Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, als noch länger in den Mauern dieser Stadt eingesperrt sein, die eine wahre Höllenglut ausströmen. Jetzt geht es endlich den persischen Bergen zu, dem kühlen Lufthauch der Höhe.
In tiefen Zügen atmen wir die frische Gebirgsluft ein, die Lungen weiten sich, begierig blicken wir zur Höhe empor. Im zweiten Gang kriecht der Wagen die steilen Kehren des Pa-i-Tak-Passes hinauf. Eine leidlich gute, von den Russen im Ersten Weltkrieg angelegte Straße verbindet die Hauptstädte Iraks