Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach
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Читать онлайн книгу Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach страница 16
Christian Wagner rang nach Worten. »Sie sollte etwas Vernünftiges aus ihrem Leben machen. Keinen Hirngespinsten nachhängen. Sie hat wohl Hobby mit Beruf verwechselt. Aber wie hätten wir ahnen sollen, dass sie plötzlich vorhatte, den Musikquatsch beruflich zu betreiben?«
»Wir haben vieles probiert«, fügte Elke Wagner hinzu. »Jessica hatte so viele Möglichkeiten und hat nichts daraus gemacht. Ins Baugeschäft einsteigen wollte sie nicht, obwohl wir sie immer wieder dazu ermuntert haben. Sie hatte keinerlei Interesse am Beruf meines Mannes. Den Unterricht an einer privaten Fachschule hat sie nach kurzer Zeit an den Nagel gehängt – sie hätte Heilpraktikerin werden können –, die Hotelfachschule in Hamburg hat sie ebenfalls nach sechs Monaten geschmissen. Es war nicht leicht mit ihr. Nichts genügte ihren Ansprüchen, nichts hat wirklich ihr Interesse geweckt. Wir haben schwere Zeiten mit Jessi hinter uns. Aber gerade wurde es wieder etwas besser. Und ausgerechnet jetzt musste sie gehen.«
Daniel lehnte sich vor. »War Jessica Ihr einziges Kind? Oder gibt es noch Geschwister?«, wollte er wissen.
»Jessica ist … Jessi war unser einziges Kind«, sagte Christian Wagner mit gebrochener Stimme. »Ich muss mich erst an die Vergangenheitsform gewöhnen.«
»Hat Jessica hier noch ein Zimmer?«
Die Eheleute nickten.
»Dürfen wir es sehen?«
Christian Wagner starrte den Kommissar an, als wunderte er sich über seine Frage. »Natürlich. Sie hatte einen eigenen Bereich. Eine ganze Etage. Wir hätten sie natürlich vermieten können, als sie ausgezogen war, aber das wollten wir nicht. Sie sollte wissen, dass sie hier ein Zuhause hatte und jederzeit willkommen war.« Christian Wagner erhob sich, um Birthe und Daniel den Wohnbereich seiner Tochter zu zeigen.
Dieser lag im Anbau des Hauses, zur Gartenseite hin, und war mindestens 90 Quadratmeter groß. Jessica hatte in ihrem Elternhaus eine komplette Wohnung für sich allein, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Ankleidezimmer, modernem Badezimmer und hochwertiger Einbauküche. Die Wohnung war genauso elegant und im gleichen Stil eingerichtet wie der Rest des Hauses.
»War dies schon länger Jessicas Reich, hat sie hier früher gelebt?«, fragte Daniel verblüfft.
»Ja, seit ihrem zwölften Lebensjahr«, antwortete Christian Wagner. »Vorher hatte sie zwei große Zimmer im Obergeschoss. Aber sie sollte in der Pubertät genug Entfaltungsmöglichkeiten haben. Oft kommt es ja zum Streit, weil sich die Kinder eingeengt und gegängelt fühlen, das wollten wir vermeiden. Sie sollte es gut haben.«
»Sie sollte sich wohlfühlen.« Elke Wagner war von hinten an ihn herangetreten und legte ihre schmale Hand auf seine Schulter.
»Ähm, die andere Wohnung …«, brachte sich Daniel ein, »Haben Sie die auch eingerichtet?«
»Ja sicher. Das hätte Jessica alleine nicht gekonnt.« Der Bauunternehmer hustete kurz und sprach dann weiter: »Jessi brauchte mehr Freiraum, sie wollte sich abnabeln, ist doch normal mit Anfang 20, da haben wir das Haus am Lieneschweg für sie gekauft. Die obere Wohnung ist noch vermietet, die alte Dame wollten wir nicht vor die Tür setzen, aber früher oder später hätte unsere Tochter das Haus für sich allein gehabt. Ideal für eine Familie!«
»Mir macht es Spaß, Möbel auszusuchen und eine Wohnung einzurichten«, sagte Elke Wagner leise.
»An meiner Elke ist eine Innenarchitektin verloren gegangen«, sagte Christian Wagner mit einem liebevollen Seitenblick auf seine Frau.
Birthe fiel noch etwas ein. »Das Handy Ihrer Tochter ist mit einer PIN geschützt. Kennen Sie die zufällig?«
»Natürlich nicht«, lautete die prompte Antwort von Christian Wagner. »Wir haben die Privatsphäre unserer Tochter immer respektiert.«
»Kein Problem, unsere Spezialisten sind schon dran«, sagte Birthe. »Die werden das herausfinden. Haben Sie ein aktuelles Foto Ihrer Tochter?«
Er sah sich suchend um. »Irgendwo sicher. Ich werde es Ihnen mailen.«
Birthe reichte ihm ihre Karte mit allen Kontaktdaten. »Es dürfen auch zwei oder drei sein«, sagte sie.
Traurig sah er sie an. »Wann kann ich unsere Tochter sehen?«
»Sobald die Staatsanwaltschaft zustimmt«, sagte Birthe. »Sie wird zunächst in die Gerichtsmedizin gebracht.«
Das war zu viel für Frau Wagner. Sie umarmte sich selbst, als suche sie Halt. Dann fing sie hemmungslos an zu schluchzen und sackte in sich zusammen.
»Brauchen Sie einen Arzt?«, erkundigte sich Daniel und suchte Blickkontakt mit Birthe.
Elke Wagner schüttelte heftig mit dem Kopf.
»Selbstverständlich besteht zudem die Möglichkeit«, bot Birthe an, »dass Sie professionelle psychologische Hilfe erhalten. Wir haben eine Liste von hochqualifizierten Psychologen und Therapeuten. Ich hoffe auch, dass ich Ihnen noch heute einen Notfallseelsorger vorbeischicken kann. Wären Sie damit einverstanden?«
»Den brauchen wir nicht. Wir möchten jetzt einfach nur allein sein«, wischte Herr Wagner ihren Vorschlag beiseite, setzte sich neben seine Frau und nahm sie in den Arm.
Kapitel 7
Auf dem Weg ins Präsidium tauschten Birthe und Daniel sich über die Begegnung mit Jessicas Eltern aus.
»Auf mich wirkten die Wagners leicht unterkühlt«, sagte Daniel, der auf dem Beifahrersitz saß. »Als versuchten sie, den Tod ihrer Tochter zu verdrängen. Als hätte er nichts mit ihnen zu tun.«
»Das ist häufig der Fall. Bei einer Todesnachricht werden Gefühle oft erst einmal unterdrückt, weil der Verstand sonst überfordert wäre. Aber ich glaube, langsam begreifen sie, was passiert ist. Dass die Mutter angefangen hat zu weinen, ist schon mal ein gutes Zeichen.«
»Und er ist so ein Typ, der meint, sich alles erkaufen zu können. Geld regiert die Welt. Ein richtiger Großkotz. Am liebsten würde er bestimmt uns kaufen, wenn der Fall dadurch schneller aufgeklärt werden würde.«
»Lass ihn doch. Das ist einfach seine Art, damit umzugehen. Er trauert auch, aber eben anders als seine Frau.«
Eine Weile hingen sie ihren Gedanken nach. Schließlich fragte Daniel: »Wollen wir morgen Abend gemeinsam da hingehen?«
»Was meinst du? Wohin?«
»Na, zum Auftritt der Band auf der Maiwoche.«
Birthe seufzte. »Henning ist gerade bei mir.«
»Hm«, machte er. »Hast ihn lange nicht gesehen, oder?«
»Diesmal waren es genau vier Wochen. Die Abstände werden jedes Mal größer. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Fernbeziehung so schwierig ist. Ich dachte, wir sind beide ledig, haben Autos, die Entfernung von gut zwei Stunden ist machbar, das dürfte kein großes Problem sein, aber die Realität sieht anders aus. Immer wieder kommt etwas dazwischen, Dienstpläne, Extraschichten, Urlaubsvertretungen, Überstunden ohne Ende – du siehst ja selbst, wie es ist, wir arbeiten ständig an