Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe. Peter Urban
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Читать онлайн книгу Marattha König Zweier Welten Gesamtausgabe - Peter Urban страница 10
»Was willst du mir erklären, Arthur?« Die Stimme des Mädchens hatte sich plötzlich verändert. Sie hatte nichts Kindliches, Verspieltes mehr. Wesley hatte sie nicht angesehen, sondern geradeaus geblickt. Er hatte das Gefühl, dass neben ihm nicht mehr die kaum achtzehnjährige Henrietta saß, sondern eine reife, erwachsene Frau. Er wandte sich ihr zu und nahm ihre Hände ganz sanft in die seinen. Jetzt war seine Stimme nicht mehr unsicher, sondern fest und kalt.
»Du weißt, dass ich Soldat bin. Und ich fahre nach Indien, um in einen Krieg zu ziehen. Du hast etwas Besseres verdient, als die Frau eines Berufsoffiziers zu werden. Du würdest nur deine jungen Jahre damit zubringen, auf einen Mann zu warten, der nie da ist, wenn du ihn brauchst. Bei jedem Klopfen an deine Tür wäre dein erster Gedanke, dass irgendein anderer Mann in einer roten Uniform auftaucht, um dir zu sagen, dass der, auf den du wartest, nie wieder zurückkommt.« »Nicht alle Soldaten fallen, mein Lieber!« erwiderte Henrietta spöttisch. »Manche werden sogar ziemlich alt und sterben in ihren Betten an Herzversagen.«
»Henrietta, ich kann nur Freundschaft geben.«
»Sir John Sherbrooke hat offenbar weniger Bedenken als du – und das, obwohl er sicher in denselben Krieg zieht, in den auch du ziehen wirst«, stichelte die Stimme neben Wesley. Henrietta war zwar noch ein junges Mädchen, aber sie war nicht dumm. Als Tochter eines berühmten Gelehrten aus einer großen Familie von Akademikern hatte man auf ihre Erziehung viel Wert gelegt. Sie konnte durchaus mit Worten umgehen.
»John Sherbrooke ist John Sherbrooke. Er hat seine Einstellung zum Leben, und er muss seine Verantwortung tragen. Vielleicht sorgt er sich nicht um Jemima. Wenn ihm etwas zustoßen sollte, kann er mit der Gewissheit die Augen schließen, dass eine ganze Horde von Sherbrookes – Vater, Brüder, Cousins – existiert, die sich rührend um die Witwe des gefallenen Helden kümmern wird und weder Mühe noch Kosten scheut, um eine ganze Brigade unglücklicher Halbwaisen standesgemäß großzuziehen.«
»Du hast auch eine Familie, Arthur!« Henrietta gab sich nicht so einfach geschlagen. Oberst Wesley argumentierte logisch und bediente sich schlüssiger Argumente. Doch jeder seiner Thesen konnte man begegnen.
»Meine Liebe, wenn du jemals in die Lage kommen würdest, vom guten Herz meiner reizenden Familie abhängig zu werden, würdest du den Tag verfluchen, an dem du mich überredet hättest, dir einen Antrag zu machen. Die Wesleys und Morningtons würden dich eher an der Pforte von Dungan Castle vor Hunger sterben sehen, als auch nur einen Bediensteten mit einer Schüssel Suppe zu schicken. Und ich selbst kann dir nichts bieten, außer einem Offizierspatent und den Schulden meines Vaters.« Arthurs Stimme hatte einen bösen, zynischen Klang bekommen. Jedes Mal, wenn er von den Wesleys und Morningtons sprach, erfüllte ihn unbändiger Hass, ein Hass, den er nicht zu unterdrücken vermochte.
Henrietta spürte seinen Gefühlswandel. Während der Tage am Kap und im Garten von Sir Marmaduke hatte sie viel über Richard Lord Mornington gehört. Die meisten hatten mit Ehrfurcht und Bewunderung über diesen Mann gesprochen, seine Aktionen im Aufsichtsrat der Ostindischen Kompanie gelobt oder von seinen glänzenden Gesetzesvorschlägen im Unterhaus berichtet und davon, dass er ein enger Freund des britischen Premierministers war und das Ohr der Regierung hatte. Einige besonders wagemutige Gäste hatten seinen Namen sogar mit dem Amt des nächsten Außenministers oder Finanzministers der Insel in Verbindung gebracht. Immer wenn die anderen über Mornington philosophierten, verfinsterte sich Arthurs Miene. Seine abgetragene Uniform, die offensichtliche finanzielle Not, unter der er litt, und dieser sonderbare Gesichtsausdruck hatten Henrietta mehr über das Verhältnis zwischen ihm und seiner Familie erzählt als seine letzten, hasserfüllten Worte. »Und wenn das Schicksal es gut mit dir meint, Arthur, und wenn du in Indien dein Glück machst?«
»Wir werden sehen, Henrietta. Darf ich dir einen Rat geben ...« Er schaute ihr tief in die blauen Augen und hielt ihre kleinen Hände ganz fest.
»Gib mir deinen guten Rat, Arthur, und sei mir nicht böse, weil ich so forsch gewesen bin.« Sie hatte verstanden, dass Wesley seinen Weg gewählt hatte und – aus irgendeinem geheimnisvollen Grund – um nichts in der Welt Zugeständnisse machen konnte.
»Du bist noch so jung und hast ein ganzes Leben vor dir. Du wirst viele nette Menschen kennenlernen. Wähle dir einen, der sein Herz nur dir schenkt und keine so anspruchsvolle Geliebte hat wie die Armee. Lasse mich in zwei Tagen ziehen und behalte die schönen Stunden in Erinnerung, die wir miteinander verbringen durften. Und dann, irgendwann, triffst du deine Entscheidung. Ich werde dich ab und an besuchen, und du kannst dann selbst sehen, ob du wirklich irgendetwas für mich empfindest. Gib dir selbst Zeit und gib mir Zeit. Wenn es das Schicksal gut mit mir meint und ich mein Glück in Indien mache, dann kommt vielleicht der Tag, an dem ich dir diese schwerwiegende Frage stellen kann, ohne von deinem Vater wie ein räudiger Hund aus dem Haus gejagt zu werden.«
»Arthur, Papa würde dich nicht ...«
»O doch, Henrietta! Er würde! Er liebt sein Kind und will nur dein Bestes. Er wird deine Hand nicht an einen unbedeutenden, mittellosen Oberst wegwerfen, der noch nicht einmal einen Titel führt, und der dir auf irgendeinem abgelegenen Außenposten im Dschungel ein Leben bietet, das nicht viel besser ist als das der einfachen Soldatenfrauen ...«
Kapitel 3 Geheimnisvolles Indien
Der Hoogley war breit und schmutzigbraun. Die Befestigungsanlagen aus grauem Granit, die von den Briten am östlichen Ufer des Flusses erst vor wenigen Jahren fertiggestellt worden waren, hoben sich scharf von den grünen und weißen Tönen ab, die die Stadt Kalkutta beherrschten. Zahllose Handelsschiffe der Ostindischen Kompanie lagen in einem riesigen Hafenbecken vor Anker. Sie waren Kriegsschiffen nicht unähnlich, nur um vieles größer und beeindruckender. Die Fregatten der Royal Navy, die zwischen ihnen in der braunen Brühe vor sich hin dümpelten, glichen Spielzeugfähren.
Die Handels- und Kriegsschiffe hatten sonnengebleichte, strahlend weiße Segel, und an den meisten waren während der langen Reise von England nach Indien behelfsmäßige Reparaturarbeiten durchgeführt worden. Diese Schiffe waren – wie die Truppentransporter mit Wesleys 33. Regiment – gerade erst angekommen und hatten Waren, britische Untertanen und Soldaten in die Kolonie gebracht. Die meisten dieser Menschen gingen enthusiastisch und voller Hoffnungen an Land, ganz gleich, aus welcher Gesellschaftsschicht oder Berufsgruppe sie stammten. Geschichten über den unermesslichen Reichtum und die unbegrenzten Möglichkeiten in einem fernen, geheimnisvollen Land hatten sie dazu bewogen, ihrer Heimat den Rücken zu kehren und ein neues Leben zu beginnen. Auch die Männer des 33. Infanterieregiments machten hier keine Ausnahme. Nur Arthur Wesley, der junge Oberst, der ein ganzes Jahr lang vom großen Tag der Ausschiffung in Kalkutta geträumt hatte, fand den geheimnisvollen Osten auf den ersten Blick weniger einladend, als die Literatur in seinen großen Reisetruhen ihn Seite um Seite geschildert hatte.
Er war neun Monate auf See gewesen. Sechs davon auf dem überfüllten Transportschiff Argonaut. Tag für Tag hatte er Bücher verschlungen, die von sagenhaftem Reichtum, märchenhaften Bauwerken, exotischen Tieren und all den Düften des Orients erzählten. Und jetzt, zweihundert Meter von den Landestegen und der neuen Welt entfernt, bot sich ihm – auf den ersten Blick – ein schockierendes Bild. »Gütiger Himmel!« sagte er leise zu sich selbst. »Der märchenhafte Orient stinkt wie eine Latrine.« Seine Augen glitten entsetzt über Hunderte von Bettlern, die den ganzen Kai zu belagern schienen und ihre Hände gierig nach den Neuankömmlingen ausstreckten. Die Fährleute, die sich auf ihren klapprigen Kähnen den Handelsschiffen näherten, sahen nicht viel besser aus als die wilde Horde an Land. In einem absonderlichen Englisch boten sie den Offizieren an, sie mit ihrem Gepäck auszuschiffen.
»Glaubst du nicht, es wäre besser, wir würden schwimmen, Arthur?«