Der Sommernachtsmörder. Marianne Berglund

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Der Sommernachtsmörder - Marianne Berglund

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Er hatte nur ihre Schuhe gesehen. Oder, genauer gesagt: Er hatte zuerst die Schuhe gesehen, und dann war sein Blick an der Besitzerin dieser Schuhe hochgeglitten. Zu dem fremden Gesicht. Tobias Lindgren. Gerüchten zufolge hatte er mit jedem Mädchen auf der ganzen Schule geschlafen, genauer gesagt, mit jedem Mädchen, das gut genug für ihn war. Das er nicht nur auslachte, während er über seine Schulter in den Kies spuckte. Und wie er mit Kippen um sich warf! Die waren so zahlreich wie die Mädchen, die sich um ihn drängten. Und nun war Andrea an der Reihe gewesen, von den blauen Augen und dem Mund eingefangen zu werden, der laut und viel über gar nichts redete.

      Du blöde Kuh, Andrea, sagte sie leise zu sich, während sie über den dunklen Bürgersteig ging. Morgen Abend, wenn sie sich in der Stadt an ihrem festen Platz sammelten, würden sie über sie lachen. Sie würde den Blicken nicht entgehen können, die ihr erzählten, was sie über sie wussten. Und wer konnte ahnen, welche Geschichten Tobias sich aus den Fingern saugen würde. Irgendeine Lüge, in der sie selbst als lächerlicher Anhang von jemandem fungierte, der doch überhaupt nichts von ihr wissen wollte.

      Endlich hatte sie die Stadt erreicht. Auch die war stumm und leer. Sie wanderte am Radweg entlang durch Timmermansleden und drückte sich dabei an die Büsche. An den Kreuzungen tickten die Ampeln, in der Dunkelheit klang das schrecklich einsam. Als sie die Kirche St. Nicolai erreicht hatte, bog sie zum Marktplatz ab, den sie überqueren musste, um zur Hamngata zu kommen. Jetzt war es nur noch eine Viertelstunde bis zur Wohnung in der Muraregata, wo aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Mutter in der Küche saß und die Hände so hart rang, wie sie vorher über dem Spülbecken den nassen Lappen ausgewrungen hatte. Die ausgedrückten Kippen im Aschenbecher auf dem Tisch, lang und nicht fertig geraucht.

      Die Österbro kam ihr in der Nacht breit vor, nicht schmal, wie tagsüber, wenn sich dort die Busse drängten und es überall von Menschen wimmelte, während die Penner im so genannten Korkenpark johlten. Flaschen, Bierdosen und Pissegestank, kaputte, vollgeschmierte Bänke. Der Figaropark machte seinem Beinamen noch immer alle Ehre, auch wenn die alte Brauerei dahinter längst schon stillgelegt worden war. Jetzt war alles leer, auch wenn man nie wusste, ob nicht irgendwer in der Dunkelheit unter den Bäumen schlief.

      Dann blieb sie stehen, dort auf der Österbro. Ihr war ein seltsames Geräusch aufgefallen. Die Laternen spiegelten ihren flammengelben Schein in der gekräuselten Wasseroberfläche des Flusses, am anderen Ufer rauschten unter einem Dach die Ventilatoren. Und wieder nahm Andrea ein leises Rascheln wahr. Falls das nicht nur vom Wind stammte. Jetzt fielen auch einige einzelne Regentropfen.

      Das Brückengeländer lag kühl unter ihrer Handfläche, sie zog den Pulloverärmel über die Hand. Die Luftfeuchtigkeit war auf dem Metall zu Wassertropfen kondensiert, sie funkelten im Licht der Straßenlaternen. Stille und Dunst, eine perfekt gespenstische Nacht. Andrea hatte Angst – und genoss es zugleich. In ihrem Magen prickelte es wie nach einem raffinierten Horrorfilm. Hand in Hand mit Tobias, dachte sie. So sollte man solche Filme sehen, nicht allein, mitten in der Nacht auf einer Brücke. Aber das half jetzt nichts, so war es eben, Tobias war ein Idiot, und sie war noch viel blöder, wo sie mit ihm fast bis hinaus nach Scheiß-Tylösand gegangen war.

      Unten, in der fast kompakten Dunkelheit zwischen den Bäumen, sah sie eine Bewegung. Vage registrierte sie eilige Schritte. Hörte pötzlich ein Platschen, als habe jemand einen Stein ins Wasser geworfen. Sie sah, wie die Wasseroberfläche sich bewegte, schwach blinkend unter den weiter entfernt stehenden Straßenlaternen. Die Kräusel verschwanden rasch wieder, und sie dachte, es sei vielleicht ein Vogel gewesen. Ein aus dem Nest gefallenes Junges oder eine Wasserratte.

      Bei der Vorstellung einer Ratte erschauerte sie. Sie nahm noch weitere Geräusche zwischen den Bäumen wahr. Dann wurde alles still, das Wasser floss lautlos unter der Brücke hindurch, ein nachtaktiver Vogel klapperte mit dem Schnabel.

      Plötzlich sah sie wieder jemanden, diesmal hinten in der Hamnagata, jemanden, der vom Wasser kam und zum Bürgersteig hochging. Was genau Andrea dazu brachte, weiter stehen zu bleiben, wusste sie nicht, es war einfach ein Gefühl, eine vage intuitive Ahnung, dass es besser wäre, dort zu bleiben, wo sie war. Die Person dort hinten ging mit ruckhaften, unregelmäßigen Schritten. Dann war eine Autotür zu hören, ein Motor, der angelassen wurde. Es musste in der Nähe dieses Friseursalons sein, der neulich umgebaut worden war, und wo eine Freundin von Andrea sich die Haare hatte schneiden lassen, weil deren Mutter den Besitzer kannte. Das Auto jagte los. Es bog auf die Brücke ab, und Andrea drückte sich in die Dunkelheit. Dann fuhr das Auto nach rechts und weiter vorbei an der Missionskirche und über die Strandgata, um schließlich irgendwo bei der Kaptensgata in Richtung Bahnhof zu verschwinden.

      Andrea fröstelte, spürte, wie sich ihr Zwerchfell verkrampfte; mit diesem Auto hatte etwas nicht gestimmt. Dann schüttelte sie das Gefühl ab, ging wieder los, versuchte, noch irgendetwas zu finden, womit sie die Heimkehr hinauszögern könnte. Sie wollte dem unruhigen Blick ihrer Mutter im Halbdunkeln nicht begegnen, ihrer zitternden Hand mit der Zigarette unter dem Ärmel des Morgenrocks. Andrea seufzte. Wie lange würde es noch dauern, bis sie erwachsen und frei sein würde und über sich selbst bestimmen könnte? Noch eine ganze Ewigkeit, noch viel länger als dieser Spaziergang nach Hause. Von Stenhuggeriväg zur Muraregata in Eineinviertelstunden. Aber jetzt konnte sie nicht länger herumtrödeln, die Straße war leer und der Wagen, der in diesem Affenzahn weggefahren war, war verschwunden. Sie kam an einigen Läden vorbei, in denen kein Licht brannte, warf einen Blick in ein dunkles Lokal. Kam dann an einem Kleiderladen vorbei, dessen Fenster von Punktstrahlern über gebückten Schaufensterpuppen in seltsamer Kleidung beleuchtet wurden. Der Laden schien nicht sonderlich gut zu laufen, das hatte sie gehört. Schweineteuer und viel zu abgedreht. Ja, dachte Andrea. Alles ist so trist wie immer, mir bleibt nichts anderes übrig, als nach Hause zu gehen. Die Kirchturmglocke auf dem Marktplatz schlug dreimal. Sie ging weiter. Sie war sich nicht sicher, glaubte aber, einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen.

      6

      Als Eva-Britt Bixe am Samstagmorgen aufwachte, wusste sie gleich, noch ehe sie die Augen geöffnet hatte, was los war. Und dieses Wissen ließ sie die Augen wieder schließen, sie ganz fest zusammenkneifen und so tun, als werde es noch einige Stunden lang Nacht sein. Nicht, dass sie aufstehen musste, sie hatte dienstfrei und war nur später mit ihrer Tochter Fia auf dem Marktplatz verabredet. Dann, um elf, würde sie, wenn auch nicht munter und lebhaft, aber doch so weit in Form sein, dass sie die drei Straßen durchaus hinter sich bringen könnte. Mit etwas Glück würde sie nicht absagen müssen.

      Doch jetzt sah es noch ganz düster aus. Gütiger Himmel, dachte sie, und wagte es dann, langsam ein Auge aufzuzwingen, um sich die Bestätigung zu holen – Migräne. Ein kleiner weißer Blitz leuchtete auf, und gleich darauf funkelte es, als jagten glänzende Aquariumsfische in ihrem Blickfeld hin und her. Sie kniff die Augen zusammen, doch jetzt schwammen sie unter ihren Augenlidern, flammengelbe, brennende Fackeln. Sie konnte nur die Augen zumachen und warten. Es würde aufhören, früher oder später, und entweder bohrende Kopfschmerzen oder einen Druck wie von Ziegelsteinen auf ihren Schläfen zurücklassen. Normalerweise hatte Kommissarin Eva-Britt Bixe nie das Gefühl, ernsthaft krank zu sein, sie war wirklich keine Hypochonderin, aber bei jedem Migräneanfall glaubte sie, sofort tot umfallen zu können. Die Migräne traf sie jedes Mal wie eine Bombe.

      Sie schob ein Bein über die Bettkante und tastete grunzend nach ihrem Morgenrock, den sie abends irgendwo am Fußende abgelegt hatte. Als sie die Arme in den dicken Frotteestoff schob, fühlte sie sich ein wenig besser, das flackernde Licht war nicht mehr so intensiv, und ihre Sicht hatte sich wieder ein wenig normalisiert. Was sie sah, war das Zimmer mit dem riesigen Doppelbett, über das sie inzwischen allein verfügte, die klumpigen Kissen, die sie wild auf der Matratze verstreut hatte, die dicke Daunendecke und auf dem Nachttisch der kleine Radiowecker mit den roten Ziffern sowie die Bilder der beiden erwachsenen Töchter. In der einen Zimmerecke thronte ein alter, geerbter Korbsessel, der zwar knarrte und an einigen Stellen zerbrochen war, von dem sie sich aber einfach nicht trennen konnte. Der Sessel hatte etwas, das Geborgenheit versprach, etwas Gebieterisches,

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