Internationales Privatrecht. Thomas Rauscher
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Im europäischen IPR, das sich in Verordnungen nach Art. 81 AEUV fortentwickeln wird, dürfte der gewöhnliche Aufenthalt zum primären Anknüpfungskriterium des Personalstatuts werden,[46] auch wenn damit dem Ziel, eine den Betroffenen nahe Rechtsordnung anzuwenden, angesichts zunehmender Mobilität schwerlich erreicht wird.
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b) Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist nicht aus einer gesetzlichen Definition entstanden, was seine Verwendung in völkervertraglichen Vereinbarungen begünstigt hat. In einer Resolution des Ministerrats des Europarates v. 18.1.1972 wird ein zweigliedriger Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts empfohlen, der sich von dem eingliedrigen Begriff des schlichten Aufenthalts abgrenzt und sich mit den insbesondere zum MSA in der Rechtsprechung entwickelten Kriterien deckt:
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aa) Aufenthalt hat eine Person dort, wo sie sich tatsächlich aufhält. Auf eine Willensrichtung oder die Legalität des Aufenthalts kommt es nicht an. Schon die Wohnsitznahme für einen gewissen, vorübergehenden, nicht notwendig ununterbrochenen Zeitraum begründet den Aufenthalt.
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bb) Ein gewöhnlicher Aufenthalt erfordert, dass der Aufenthalt auf Dauer angelegt ist, was nicht voraussetzt, dass der Aufenthalt schon länger angedauert haben muss. Dauerhaftigkeit kann sich auch zukunftsgerichtet aus den Umständen des Falles ergeben. Zweites Element ist, dass die Person dort ihren Daseinsmittelpunkt hat. Hierbei sind private und berufliche Umstände zu berücksichtigen, welche eine enge und dauerhafte Beziehung zwischen der Person und ihrem Aufenthalt anzeigen; es muss eine gewisse Integration in familiärer und beruflicher Hinsicht und der Schwerpunkt der Bindungen an diesem Ort[47] vorliegen. Der Wille der Person, den Aufenthalt beizubehalten, ist danach nicht Voraussetzung für den gewöhnlichen Aufenthalt, ist aber bei der Bestimmung, ob der Aufenthalt zum Daseinsmittelpunkt geworden ist, wesentlich zu berücksichtigen; eine zwangsweise Unterbringung begründet keinen gewöhnlichen Aufenthalt. Im Rahmen der Rom III-VO und der EU-ErbVO wird jedoch aus Gründen der Stabilisierung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts eine Abhängigkeit vom Willen diskutiert.
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cc) Der gewöhnliche Aufenthalt von Minderjährigen hat die Rechtsprechung vor allem im Zusammenhang mit dem MSA vielfach beschäftigt. Da der gewöhnliche Aufenthalt auch bei Minderjährigen nicht als rechtliche Fiktion von dem der Sorgeberechtigten abgeleitet wird (anders § 11 BGB für den Wohnsitz), sondern nach den für den Minderjährigen geltenden tatsächlichen Gegebenheiten zu bestimmen ist, kann sich der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen selbst gegen den Willen eines (allein) Sorgeberechtigten ändern.
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Die Prüfung einer sozialen und familiären Integration wird insbesondere in Fällen von Kindesentführung durch einen Elternteil oder Verwandten (sog legal kidnapping) bedeutsam. Verbringt ein Elternteil das Kind gegen den Willen des anderen (allein oder mit-) sorgeberechtigten Elternteils in ein anderes Land (oft sein Heimatland), so schließt der entgegenstehende Wille eines Sorgeberechtigten nicht die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts aus. Andererseits kann der gewöhnliche Aufenthalt am neuen schlichten Aufenthaltsort nicht sofort begründet werden, weil die Dauerhaftigkeit der Eingliederung, anders als etwa beim Umzug des Kindes mit beiden Eltern, wegen des entgegenstehenden Willens des Sorgeberechtigten nicht von vornherein feststeht.[48] Andererseits ist die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts gerade in solchen Fällen oft entscheidend, weil vom Bestehen des gewöhnlichen Aufenthalts die internationale Zuständigkeit aus Art. 5 KSÜ, Art. 1 MSA oder Art. 8 Brüssel IIa-VO abhängt (vgl aber Rn 281).
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Die Integration eines Kindes hängt stark von seinem Alter ab; sie ist im frühkindlichen Stadium weitestgehend familienorientiert, weshalb es zwar nicht zu einer rechtlichen Ableitung vom Sorgeberechtigten kommt, aber zu einer faktischen Berücksichtigung des gewöhnlichen Aufenthalts des betreuenden Elternteils.[49] Später kommen soziale Außenbeziehungen (Kindergarten, Schule) hinzu.[50] In der Rechtsprechung wurde bisher in „Entführungsfällen“ sowie in Fällen einer sonst zwischen den Sorgeberechtigten strittigen Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts eine konkrete soziale Eingliederung angenommen, wenn der Minderjährige am neuen Aufenthaltsort seit mindestens sechs Monaten (als „Faustregel“)[51] normal integriert lebt, also etwa Schule oder Kindergarten besucht oder als Kleinkind im Familienverband mit einem Elternteil und/oder sonstigen Verwandten lebt, ohne dass der andere Elternteil konkrete Schritte zur Rückführung unternimmt. Selbst wenn der Aufenthalt des Kindes durch den allein Sorgeberechtigten verlegt wird, dürfte nicht sogleich die für den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts erforderliche Integration eintreten; bei einem Kleinstkind, das bei der bisherigen engsten Bezugsperson bleibt, die in ihr Heimatland zurückkehrt, wo diese selbst stark integriert ist, wird jedoch sehr bald ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt anzunehmen sein.[52]
281
Um den Übergang der Zuständigkeit zu verzögern, treffen Art. 7 Abs. 1 KSÜ und Art. 10 lit. b Brüssel IIa-VO in „Entführungsfällen“ Sonderregelungen zur Fortdauer der Zuständigkeit der Gerichte des Staates, aus dem das Kind entführt wurde. Obgleich diese Regelungen so formuliert sind, dass trotz Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts die Zuständigkeit fortbesteht, wirft die dort normierte Jahresfrist die Frage auf, in welchem Verhältnis die Jahresfrist zur „Faustregel“ eines mindestens 6-monatigen Aufenthalts steht.
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dd) Einen wesentlichen Schritt zur Rückführung entführter Kinder hat das Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung v. 25.10.1980[53] bewirkt (HKiEntÜ; Rn 983 ff). Zwischen den Mitgliedstaaten wird der Vorrang der Entscheidung der Gerichte des Staates, aus dem das Kind entführt wurde, durch Art. 11 Brüssel IIa-VO gegenüber dem HKiEntÜ verstärkt. Weitere Änderungen sind in Art. 22 ff des Vorschlags einer Brüssel IIb-VO geplant.[54]
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c) Vom Wohnsitz nach deutschem Recht unterscheidet sich der gewöhnliche Aufenthalt in drei Kriterien: Der Wohnsitz wird im Regelfall willentlich begründet (§ 7 Abs. 1 BGB: „niederlässt“; deutlich § 8 Abs. 1 BGB) und aufgehoben (anders aber § 9