Kommunikationswissenschaft. Roland Burkart

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Kommunikationswissenschaft - Roland Burkart

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2008, Marchart 2018, Renger/Wimmer 2014), die sich ebenfalls mit dem Entstehen von Identität befassen. Auch hier ist Identität nur plural vorstellbar. Jedes Individuum wird von einer Vielzahl von Identitäten gleichsam „durchkreuzt“ (Marchart 2018: 177) und keine dieser Identitäten gehört ihm alleine – im Gegenteil: Identität ist immer kollektiv, sie ist gesellschaftlich bestimmt und sie ist immer auch umkämpft. Zwischendurch „stabilisiert sie sich durch Abgrenzung von anderen Identitäten, was unausweichlich die Frage des Ausschlusses, der Macht und des Widerstands aufwirft“ (ebd.).

      Der Cultural Studies-Ansatz ist ein politisches, „auf soziale Veränderung zielendes Projekt“ (Renger/Wimmer: 2014: 522) – nicht zuletzt vor dem biografischen Hintergrund seiner Gründer in der Tradition der 1960er Jahre in Birmingham. Damals hatten Raymond Williams und Richard Hoggart (beides britische Arbeiterkinder) sowie Stuart Hall (ein Stipendiat aus Jamaika) als „scholarship-boys“ Zugang zu den englischen Eliteuniversitäten bekommen, wo ihnen die Konfrontation mit der englischen Oberklasse ihre eigene soziale Identität bewusst machte und den Blick für die Kultur der eigenen Klasse schärfte (Marchart 2018: 29). Aus der Konfrontation zwischen proletarischer Herkunftskultur und Elitenkultur erwuchs das Ziel, die Arbeiterkultur zu rehabilitieren und die Lage der Arbeiterklasse durch Erwachsenenbildung zu verbessern.

      Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus berühren sich dort, wo es um das Konzept der Bedeutungskonstruktion geht. Was die Medienrezeption betrifft, so kommt dies in dem vielzitierten encoding-decoding-Modell zum Ausdruck. Danach impliziert jeder medial vermittelte Inhalt verschiedene Möglichkeiten der Dekodierung (Lesarten)26, was dem Publikum daher einen großen Interpretationsspielraum eröffnet (vgl. Marchart 2018: 143 ff., Winter 2011: 473 f.) und mannigfache Chancen zur Ausbildung bzw. Veränderung der eigenen Identität(en) bietet.27

      Versucht man nunmehr, den Stellenwert von Kommunikation bei der Genese des Selbst einzuschätzen, so wird man abermals auf die sozialen Interaktionsprozesse verwiesen, in denen derartige Identitäten entstehen: Auch Kommunikation – als ein (per definitionem) soziales Geschehen – bedarf ja stets mindestens zweier im Hinblick aufeinander (inter-)agierender Partner·innen. Es ist somit die Frage nach der Bedeutung kommunikativer Interaktionsabläufe zu stellen; es ist zu fragen, welchen Stellenwert (beim Zustandekommen jeweils spezifischer Identitäten) jene sozialen Verhaltensweisen besitzen, die auf das Mitteilen von Bedeutungsinhalten ausgerichtet sind.

      Die zentrale Bedeutung kommunikativer Interaktionsprozesse für die Genese des oben beschriebenen Selbst wird einsehbar, wenn man sich Meads Konzept der Geste vergegenwärtigt. In dieser Geste und ihrer Funktion im Rahmen der sozialen Interaktion sieht Mead nämlich „den Schlüssel zur Erklärung der Entstehung von Geist, Bewusstsein und Identität aus einfachen Prozessen der Kommunikation“ (Raiser 1971: 99). Die Geste stellt für Mead nicht nur die Anfangsstufe jeglichen Sozialverhaltens dar, er sieht in ihr auch jenes Phänomen, das später zum Symbol wird (Mead 1968: 81) und damit symbolisch vermittelte Interaktion, also – Humankommunikation – überhaupt erst möglich macht. Mittlerweile spricht Vieles dafür, dass Zeigegesten und Gebärden die entscheidenden Übergangspunkte in der Evolution von der animalischen zur menschlichen Kommunikation waren (vgl. Tomasello 2011: 68 ff.; 2020: 147 ff.).

      Unter einer Geste versteht Mead jede Regung eines Organismus, wie etwa eine Bewegung (= motorische Geste), einen Gesichtsausdruck (= mimische Geste) oder einen Laut (= vokale Geste), die als Reiz auf Andere, in den gleichen Verhaltens- oder Handlungskontext einbezogene Lebewesen wirkt (vgl. dazu Mead 1968: 52, 81).28 Eine solche Interaktion via Gesten ist (noch) auf der unbewussten Ebene anzusiedeln, sie ist daher auch für die frühen Wechselbeziehungen zwischen Eltern und Kind kennzeichnend.29 In dieser noch unbewussten Übermittlung von Gesten (seitens) des Kleinkindes sieht Mead nun aber die frühesten Anfänge von Kommunikation (ebd.: 109). Indem nämlich die Gesten des Kindes (in ihrer Funktion als Reize für die das Kind umgebenden Erwachsenen) zu Reaktionen der Erwachsenen führen, gewinnen sie Bedeutung für das Kind: Die Reaktion der Erwachsenen auf die Geste des Kindes ist die Interpretation dieser Geste für das Kind (vgl. Mead 1968: 120).

      So ist z. B. das Schreien eines Kindes normalerweise ein Auslöser für einen ermutigenden oder beruhigenden Antwortlaut der Eltern (begleitet von schützenden Bewegungen in Richtung auf das Kind). Durch diese Reaktion „definieren“ die Eltern dem Kind die Bedeutung, die sie seinem Laut beimessen; eine daraufhin folgende Veränderung bzw. Abschwächung im Schrei des Kindes bestätigt gegebenenfalls den Eltern ihre Interpretation des ursprünglichen Schreies als „Hilferuf“ oder Ähnliches. Den Vorgang, in dem die (vom Kind) noch unbewusst gesetzte Geste der Angst die entsprechende Geste der Beruhigung oder des Schutzes (seitens der Eltern) ausgelöst hat, kann man als fortlaufenden Anpassungsvorgang dieser Individuen aneinander begreifen, im Rahmen dessen die jeweiligen Gesten, infolge der wechselseitigen Reaktionen, die sie ausgelöst hatten, Bedeutung erlangten (siehe dazu: Mead 1968: 84 f. und 414 f.).

      Solcherart interpretierte Gesten können schließlich zum gezielten Ausdruck der jeweiligen Bedeutung bzw. zum gezielten Hervorrufen der erlernten Reaktion (des Anderen) verwendet werden. Löst eine verwendete Geste nun in beiden miteinander interagierenden Individuen das Gleiche aus, dann spricht Mead von einem signifikanten Symbol (1968: 85), welches fortan (zwischen diesen Interaktionspartnern) symbolische Kommunikation möglich macht. Eine derartige – sich signifikanter Symbole bedienende – Kommunikation zeichnet sich nach Mead aber auch dadurch aus, dass sie „nicht nur an andere, sondern auch an das Subjekt selbst gerichtet ist“ (1968: 181). Das soll heißen, dass wir, wenn wir kommunikativ handeln, in uns selbst auch jene Bedeutungen Haltungen, Einstellungen, Ideen etc.) wachrufen, die wir im Bewusstsein der anderen Individuen (an die wir unser kommunikatives Handeln richten) aktualisieren (wollen). Im Falle der vokalen Geste ist damit der Zustand erreicht, den wir Sprache nennen. Sprache besteht (hauptsächlich) aus „jenen vokalen Gesten, die dazu neigen, im einzelnen die auch beim anderen ausgelösten Haltungen hervorzurufen“ (Mead 1968: 203). Dies bedeutet jedoch weiterhin, dass wir mit Hilfe signifikanter Symbole zugleich auch die (vermeintliche) Haltung des/der Anderen uns selbst (bzw. unserem Verhalten) gegenüber einnehmen, uns also damit zugleich aus der Perspektive des/der Anderen betrachten und damit für uns selbst zu einem Objekt werden!

      Um dieses Sich-aus-der-Perspektive-des-Anderen-Betrachten klar vor Augen zu führen, sei mit Zijderveld (1975: 100) eine ganz alltägliche Gesprächssituation unter die Lupe genommen: Angenommen, Herr A begegnet auf der Straße Herrn B und fragt ihn nach dem Weg zum Bahnhof. Analysiert man diese Begegnung als ein wechselseitiges Aktualisieren von subjektiv erlebten und intersubjektiv verständlichen und daher gegenseitig bedeutungsvollen ‚signifikanten’ Symbolen, dann stellt sie sich folgendermaßen dar: Herr B „richtet sich mit Gebärden und mit Worten, als Erklärer des Weges zum Bahnhof, nicht nur an Herrn A (dort ihm gegenüber), sondern während er den Weg erklärt, übernimmt er die Rolle und Haltung des Herrn A, das heißt: des Zuhörers, der der Erklärung bedürftig ist, und richtet sich also an sich selbst, als wäre er jemand, der den Weg zum Bahnhof noch nicht kennt. Etwas Ähnliches passiert mittlerweile innerhalb von Herrn A: Während er Herrn B (dort ihm gegenüber) sieht und hört, adressiert er sich selber in der Rolle und der Haltung eines Erklärers“ (ebd. 1975: 100).

      Genau an diesem Punkt wird nun die Bedeutung von Kommunikation für die Entstehung von Identität und Selbst-Bewusstsein einsehbar: Das Verfügen über bzw. das Verwenden von signifikanten Symbolen (im kommunikativen Handeln) bringt eine Verhaltensweise hervor, in der das Individuum für sich selbst ein Objekt wird, weil die Rolle des Anderen (die Perspektive seines Gegenübers) im Augenblick des Gebrauchs derartiger signifikanter Symbole auch in ihm selbst gegenwärtig ist (vgl. Mead 1968: 180 f.). Eben weil signifikante Symbole mit Anderen geteilte Bedeutungen aktualisieren, machen sie zugleich auch die Perspektive dieser Anderen dem kommunikativ

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