Die moderne Erlebnispädagogik. Rainald Baig-Schneider
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Erziehung: (engl. education). Handlungen von Eltern, Lehrern, Ausbildern und anderen Erziehern bzw. Pädagogen, die in der bewussten Absicht erfolgen, durch den Einsatz bestimmter E.mittel und E.maßnahmen Kenntnisse und Fähigkeiten, Einstellungen und Wertorientierungen, Handlungswillen und Handlungsfähigkeit, also die individuelle Mündigkeit der Kinder oder Jugendlichen und ihrer Kompetenz zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben möglichst dauerhaft zu verbessern.73
Wie schon zuvor dargestellt, steht am Beginn der Erlebnispädagogik der Begriff der „Erlebnistherapie“, der allerdings, wie oben dargestellt, pädagogisch zu verstehen ist.
Damit treten die Merkmale „Erziehung“ und „Jugendliche“ in den Vordergrund.74 Bei der Erlebnispädagogik handelt es sich nach obiger Definition also um ein Erziehungskonzept für „die Jugend“. Die erstmalige Verwendung dieses Begriffs ist im Gegensatz zum Begriff der „Erlebnistherapie“ (vgl. dazu Ende Abschnitt 2.1) belegt: Im Jahr 1925 verwendet Waltraud Neubert in ihrer von Hermann Nohl betrauten Diplomarbeit diesen Begriff:
So will die Erlebnispädagogik den Menschen bilden zu dem, was er ist (…) 75
Der Begriff wird anschließend noch von weiteren Pädagogen / -innen verwendet, allerdings entwickelt er sich zu keinem „Leitbegriff“ der Pädagogik dieser Zeit. Dementsprechend selten taucht der Begriff „Erlebnispädagogik“ explizit auf:
Es ist aber deutlich geworden, dass sich – von Gegenwart und jüngerer Vergangenheit abgesehen – der Nachweis eines ausdrücklichen Gebrauches des Begriffs Erlebnispädagogik nur auf einige wenige Quellen beschränkt. Neubert ist hier zuerst zu nennen. Bei ihr kann der Begriff Erlebnispädagogik erstmalig belegt werden. Es folgen Kneisel und Fischer, sowie Lehmann und Nohl, die zahlreiche fruchtbare Anhaltspunkte zu Struktur und Konzept einer Erlebnispädagogik an die Hand geben.76
An dieser Stelle muss man auch anmerken, dass die oben genannten Personen in der Diskussion der „modernen Erlebnispädagogik“ so gut wie keine Rezeption erfahren. Eine Ausnahme ist nur Waltraud Neubert, einerseits als „Namensmutter“ und andererseits, weil sie als Erste versucht, eine Schuldidaktik auf Grundlage von Erlebnissen zu erstellen (mit Erlebnisaufsatz, neuem Zeichenunterricht, Musik und Körperbeziehung und der Methodik des Erlebnisausdruckes)77 Sie steht ganz im Zeichen eines humanistischen Bildungsbegriffs:
So will die Erlebnispädagogik den Menschen bilden zu dem, was er ist, in einem Leben, auf allen großen menschlichen Erlebnis feldern. Darin liegt, dass ihr Bildungsideal, obgleich es des sozialen Einschlags nicht entbehrt, doch im wesentlichen humanistisch ist und auf die vollkommene menschliche Entfaltung des einzelnen abzielt, dass also Erlebnis als Bildungsmittel mit hineinverwoben ist in die historische und weltanschauliche Bedingtheit dieses Bildungsideals.78
Waltraud Neubert begreift das Erlebnis als „methodischen Grundbegriff der modernen Pädagogik“79. Dabei greift sie auf den Erlebnisbegriff von Wilhelm Dilthey zurück und entwickelt daraus ihr Konzept einer Erlebnispädagogik bzw. der „Erlebnismethode“.80 In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass ihr Diplomarbeitsbetreuer Hermann Nohl als „Nachfolger“ von Wilhelm Dilthey gilt und wesentlich zur Entwicklung der geisteswissenschaftlichen Pädagogik beitrug.
2.1.3 „Gegenmodelle“ Erlebnistherapie und Erlebnispädagogik
Es ist interessant, dass sowohl Kurt Hahn als auch Waltraud Neubert etwa zur gleichen Zeit an einer „Pädagogik des Erlebens oder des Erlebnisses“ arbeiteten, ohne sich aufeinander zu beziehen. Und dies, obwohl beide „reformpädagogisch geprägt“ waren:
Nicht nur institutionsgeschichtlich wurden tatsächliche Erziehungsfelder geschaffen, auf denen erlebnispädagogische Initiativen verwirklicht werden konnten. Auch unter dem Aspekt der ideengeschichtlichen Grundlagen der Erlebnispädagogik wurden zwischen 1925 und 1928 ihre wesentlichen Ziele, Inhalte und Methoden durch die Arbeiten von Waltraud Neubert und Kurt Hahn konkretisiert. Die zeitliche Parallelität, in der die Konzepte der Erlebnispädagogik und Erlebnistherapie erarbeitet wurden, musste schon überraschen. Einerseits kann mit großer Sicherheit davon ausgegangen werden, dass weder Hahn die Arbeiten von Neubert noch Neubert die Arbeiten von Hahn kannte. Andererseits zeigt diese Parallelität, dass die „Erlebnisarmut“ im öffentlichen Erziehungswesen dafür sensibilisierte, sich alternativen Konzepten verstärkt zuzuwenden. Auf jeden Fall waren beide von reformpädagogischen Ideen beeinflusst, denn die Verbindung zwischen Erlebnis und Erziehung durch Methoden der Arbeitsschulbewegung wurde von Hahn und Neubert gleichermaßen thematisiert.81
Zusammengefasst bedeutet dies: die Grundlagen der Erlebnispädagogik und auch die Begrifflichkeit wird in der Zwischenkriegszeit ausformuliert. Dafür werden zwei Begriffe verwendet: Erlebnistherapie und Erlebnispädagogik. Beide Begriffe können der Reformpädagogik zugeordnet werden. Wie oben erwähnt, sind beide Konzepte Alternativkonzepte zum „öffentlichen Erziehungswesen“. Dementsprechend handelt es sich in beiden Fällen um Gegenmodelle.
Beide Ansätze sind Gegenentwürfe zum vorherrschenden Schulsystem bzw. dessen didaktischer Ausrichtung, zumindest in ihren Anfangsphasen. Allerdings geht es um Alternativen zum aktuellen System und nicht um die Abschaffung der Institution Schule. Somit geht es im Fall der Erlebnistherapie um die Schaffung einer „Reformschule“ und im Falle der Erlebnispädagogik um die Einführung einer „Reformdidaktik“. Die Arbeit von Waltraud Neubert steht ganz im Zeichen eines didaktischen Reformversuchs von Schule und Hahn setzt seine Erlebnistherapie in Form von Internatsschulen um. 1920 gründet er die Internatsschule Schloss Salem, der bald noch weitere folgen (dazu mehr in Kapitel 4.4). In beiden Fällen handelt es sich also um schulische Erziehungskonzepte, zumindest was die institutionelle Umsetzung betrifft. Damit sind beide Konzepte zwar Gegenkonzepte was ihre didaktische Gestaltung betrifft, aber prinzipiell stellen sie reformierte Ergänzungen des (öffentlichen) schulischen Erziehungswesens dar. Beiden Konzepten liegt die Institution Schule zugrunde, beide richten sich an die Zielgruppe Kinder und Jugendliche und sind somit schulische Erziehungskonzepte. Diese Ausrichtung auf das „System Schule“ verändert sich erst im Laufe der Zeit bzw. erfährt in Form der so genannten Kurzschulen eine Ausweitung (dazu mehr in den Abschnitten 4.4.3 und 7.1)
Allerdings wird nur der Ansatz von Kurt Hahn langfristig, auch institutionell, umgesetzt. Der Grund dafür liegt wohl in der „Kraft der Bündelung“ der verschiedensten „erlebnisorientierten reformpädagogischen Ansätze“, in der „Erlebnistherapie“:
Der Begriff des Erlebens spielt in nahezu allen reformpädagogischen Bewegungen eine zentrale Rolle. Als Kurt Hahns historischer Verdienst kann gelten, dass durch seine Theorien der Erlebnistherapie die verschiedenen Fäden einer Pädagogik des Erlebens wohl eher unbewusst als beabsichtigt verknüpft werden. Diese historischen Fäden oder Wurzeln reichen über die Reformpädagogik hinaus bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Die herkömmliche Einteilung in Bewegungen versucht aus dem