Die moderne Erlebnispädagogik. Rainald Baig-Schneider
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Aber neben dieser Entwicklung einer „Sammeltheorie“ ist der Grund für das nachhaltige Wirken von Kurt Hahn wohl seinem Organisationstalent und seiner charismatischen Ausstrahlung zuzuschreiben. Kurt Hahn ist als wirklicher „handlungsorientierter“ Pädagoge zu sehen. Während in der Wissenschaft über Begrifflichkeiten diskutiert wird, gründet Hahn eine Schule nach der anderen. Selbst nach dem Gang ins Exil nach England dauert es nicht lange und schon wird die nächste (Internats)Schule gegründet. Durch seine Tätigkeiten schafft er ein Fundament, auf dem die heutige, so genannte „moderne Erlebnispädagogik“ noch immer aufbaut. Diese Spannung zwischen „Aktionismus“ versus „gelehrtem Diskurs“ ist auch heute noch spürbar und wird an vielen Stellen erwähnt: hier die praktischen Erlebnispädagogen / -innen, dort die verkopften Theoretiker / -innen. Allerdings handelt es sich dabei um einen weit über die Grenzen der Erlebnispädagogik vorkommenden Topos. Tatsache ist auf jeden Fall, dass, im Gegensatz zu Waltraud Neubert, Kurt Hahn noch heute präsent ist: einerseits durch die aktuelle, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner „Erlebnistherapie“ und andererseits in „materieller“ Form durch seine Schulgründungen (siehe dazu Kapitel 4.4).
2.1.4 Rückgriff: Das Erlebnis nach Wilhelm Dilthey
Zentraler Leitbegriff der Erlebnistherapie und der Erlebnispädagogik ist das Erlebnis. Dabei ist es gerade der Begriff des „Erlebnisses“, der in der „modernen Erlebnispädagogik“ sehr kritisch hinterfragt wird. Im Prinzip gibt es drei Hauptkritikpunkte:
Erlebnisse sind nicht pädagogisch (methodisch-planvoll) provozierbar bzw. erzeugbar.83
Erlebnisse sind als isolierte, individuelle Erscheinungen nicht in ein pädagogisches System integrierbar.84
Erlebnisse sind nur die Befriedung einer „Abenteuerlust“ oder „Entgrenzung“ der Gesellschaft und dementsprechend als pädagogisch-erzieherische Kategorie nicht zulässig85
Es ist sicher so, dass „das Erlebnis“ als ein „erlebtes Gefühl“ einer wissenschaftlichen Beschreibung schwer zugänglich ist. Der Begriff bzw. der Begriff des „Erlebens“ wurde von Wilhelm Dilthey bereits in den Anfängen der (geistes)wissenschaftlichen Diskussion als ein zentraler eingeführt:
Die Wurzeln der Erlebnispädagogik liegen bei Wilhelm Dilthey (1833–1911) und seiner Begründung einer geisteswissenschaftlichen Psychologie, in der das Erleben der eigenen Zustände und das Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistes als die beiden Möglichkeiten des Menschseins verstanden wurde, die Wirklichkeit zu erfassen.86
Die oben angesprochene Waltraud Neubert arbeitete aus dem Gesamtwerk von Wilhelm Dilthey für ihre Erlebnispädagogik sieben zentrale Momente für die Bestimmung des Erlebnisses heraus:
Erlebnisbegriff von Wilhelm Dilthey nach Waltraud Neubert:87
Kategoriale Gliederung | Inhaltlicher Kontext |
1. Unmittelbarkeit des Erlebnisses | Erlebnisse sind unmittelbar, da mit ihnen, im Gegensatz zum denkenden Verstehen, das Leben vom Individuum selbst erfasst wird. |
2. Erlebnis als gegliederte Einheit | Das Erlebnis ermöglicht eine solche denkende Aufhellung dadurch, dass es eine gegliederte Einheit darstellt, die als solche sich im gesamten Erlebnisstrom als bedeutsam von anderen Erlebnissen abgrenzt. |
3. Erlebnis als mehrseitiges Spannungsgefüge | 3.1. Totalität In jedem Erlebnis sind alle geistigen Grundrichtungen wirksam. Es kann in ihm auch wie in jedem anderen seelischen Akt die Totalität des Seelenlebens, das Wirken des ganzen, wollend-fühlend-vorstellenden Menschen nachgewiesen werden. Dabei liegt der Nachdruck auf der entscheidenden mächtigen Mitte: „im Gefühl genossene Lebendigkeit“.3.2. Subjekt-Objekt-Bezug Zwar ist für das Subjekt das Erlebnis herausgehoben aus dem Gesamtverlauf des seelischen Geschehens durch seine Intensität im Bewusstsein. Zugleich mit dem seelischen Zustand aber ist im persönlichen Erlebnis in Beziehung auf ihn die Gegenständlichkeit der Welt gegeben.3.3 Allgemeingültigkeit und Individualität Jeder Mensch erlebt etwas Schmerz und Freude in der gleichen Grundart. Darüber hinaus aber sind jedem Erlebnis Züge eigen, die durch Rasse und Geschlecht, Gesellschaftsschicht und Beruf, schließlich durch die individuelle Anlage bedingt sind. |
4. Historischer Charakter des Erlebnisses | Individualität ist nicht etwas Gegebenes, sondern das Seelenleben bildet eine Entwicklung. Umgekehrt schwingt auch alles je Erlebte im Erlebnis mit, so dass jeder einzelne Bewusstseinsakt in seinem Auftreten und seinem Charakter von diesem ganzen erworbenen seelischen Zusammenhang bedingt ist. |
5. Entwicklungsfähigkeit des Erlebnisses | Das Erlebnis lässt sich einmal nach seinen Wurzeln hin verfolgen: denn hat es auch den Charakter des Plötzlichen, so ist es doch das Ergebnis einer inneren Folge von Seelenzuständen, welche nach ihrem Zusammenhang auf das Erlebnis hindrängen und in ihm Höhepunkt und Abschluss haben. |
6. Objektivationsdrang und Erlebnis | Wie alle seelischen Grundfunktionen im Erlebnis ins Spiel treten, so wird auch der ganze seelische Zusammenhang, in den sich unser geistiges Leben gliedert, in ihm durchlaufen. Von der empfindungs- und vorstellungsgemäßen Antwort auf die Reize, über die Wertung im Gefühl als dem wichtigsten Teil, stößt das Erlebnis durch bis zum Willensimpuls, der sich dann in der doppelten Form des Ausdrucks oder der Handlung entladen kann. |
7. Zusammenhang von Leben-Ausdruck-Verstehen | Die schöpferische Kraft des Erlebnisses begründet schließlich den Zusammenhang von Leben-Ausdruck-Verstehen, infolgedessen nun auch auf dem umgekehrten Wege von außen nach innen in jedem Gebilde, in welchem Erlebnis Gestalt geworden ist, das Schaffende, Wertvolle, Handelnde, Sichausdrückende, Sichobjektivierende im Nacherleben wieder flüssig gemacht werden kann. |
Die Diskussion über den Begriff des Erlebnisses ist ein zentrales Moment der „geisteswissenschaftlichen Pädagogik“, ja in der Geisteswissenschaft als solche.
In der modernen Erlebnispädagogik ist allerdings nicht mehr der Begriff des Erlebnisses ein „Leitbegriff“ der wissenschaftlichen Diskussion, sondern die „pragmatischen“ Begriffe wie „Transfer“, „Wirkung“ und „Lernen“. Dabei ist auch nicht mehr die „geisteswissenschaftliche Pädagogik“ die Leitdisziplin, sondern es wird auf eine Fülle anderer Wissenschaftstheorien (kritisch-rationale, empirische Theorie, Systemtheorie, Konstruktivismus etc.) bzw. auf die unterschiedlichsten Bezugswissenschaften (Psychologie, Soziologie), Modelle und Erklärungen zurückgegriffen. Eine genaue Differenzierung und Systematisierung dieser Diskussionsstränge in der modernen erlebnispädagogischen Literatur steht noch aus. Trotzdem gilt es festzuhalten, dass der Begriff „Erlebnis“ noch immer ein, wenn auch manchmal nur historischer Leitbegriff der Erlebnispädagogik ist. Allerdings (ver)schwindet er oft durch Bezeichnungen wie „Outdoor-Training“ oder durch die Umschreibung „handlungsorientierter Ansatz“. Diese Verschiebung ist aus meiner Sicht eine logische Konsequenz aus den oben