Weiterwohnlichkeit der Welt. Группа авторов

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Weiterwohnlichkeit der Welt - Группа авторов

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die großen Fragen hinsichtlich der Zukunft der Menschheit, sondern auch die Alltagsmoral betrifft: „Produkte, also Dinge, sind es, die den Menschen prägen. In der Tat wäre es kaum eine Übertreibung zu behaupten, daß Sitten heute fast ausschließlich von Dingen bestimmt und durchgesetzt werden. […] Sofern wir heute einen Benehmenskodex haben, ist dieser von Dingen diktiert.“23 Das Sollen wird also durch die Apparate, mit denen wir uns umgeben, in ein Müssen umgewandelt, aus Handlungsmöglichkeiten werden Notwendigkeiten, die gleichsam als naturhafte Sachzwänge erscheinen. Freiheit und damit die Möglichkeit, als Mensch zu agieren, lassen sich allein in einer immer wieder herzustellenden Souveränität gegenüber den Technologien bewahren, denn es gilt: „Jeder hat diejenigen Prinzipien, die das Ding hat, das er hat.“24 Deshalb gab Anders seiner positiven Neuformulierung des kategorischen Imperativs folgende Form: „Habe nur solche Dinge, deren Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten.“25 Welchen Maximen eine Moral auch immer folgen will – die Bedingung für deren Möglichkeit entscheidet sich am Verhältnis dieser Maximen zu den in der Technik immer schon mitgelieferten Handlungsanweisungen und Normierungen des Denkens und Handelns. Man könnte diese Überlegung auch den Neuformulierungen des kategorischen Imperativs bei Hans Jonas gleichsam vorschalten: Wer an einer Permanenz echten menschlichen Lebens interessiert ist, muß aufpassen, ob er dieser Intention nicht einfach dadurch widerspricht, daß er Geräte verwendet, zu deren immanenter Logik es gehört, eben jenes „echte menschliche Leben“ zu destruieren. Aus solch einem Ansatz resultierte keine blinde Technikfeindlichkeit, wohl aber eine vernünftige Reflexion eines jeden über die immanenten Ziele unserer Apparaturen. In detaillierteren Analysen – so Günther Anders zum Fernsehen, Hans Jonas zu Fragen der Medizinethik – haben beide Denker vorgeführt, wie solch eine Reflexion aussehen kann.26 Wenngleich sich beide Denker also in der Frage nach der Begründbarkeit der Existenz der Gattung Mensch deutlich unterscheiden, können in den Ansätzen zu einer Ethik, die auf die Fortsetzung menschlichen Lebens auf der Erde abzielt, durchaus Übereinstimmungen festgestellt werden.

      Dieses Phänomen einer gleichzeitigen intellektuellen Nähe und Ferne läßt sich noch in einem weiteren Themenbereich ihres Denkens feststellen. Beide Philosophen, die aus säkularen jüdischen Familien stammten und durch die Vernichtungspolitik der Nazis in existentieller Weise auf ihr Judentum verwiesen worden waren, hatten sich, wenn auch erst Jahrzehnte später, der schmerzhaften Frage nach den Folgen der Schoah für den Glauben an den biblischen Gott und für eine moderne Auseinandersetzung mit der Theodizeeproblematik gestellt. In der Frage allerdings, welche religionsphilosophischen oder theologischen Konsequenzen aus den Massenmorden des zwanzigsten Jahrhunderts zu ziehen sind, hatten Hans Jonas und Günther Anders diametral entgegengesetzte Positionen. Während Hans Jonas in einem beeindruckenden und berührenden Text – Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme – den Gedanken zur Sprache brachte, man könne nach Auschwitz nur noch von einem dem Handeln des Menschen ohnmächtig ausgelieferten Gott reden, stellten Auschwitz und Hiroshima für Günther Anders die stärksten Indizien dafür dar, daß Gott nicht existieren könne. Wie aus den Erinnerungen von Hans Jonas hervorgeht, haben sie jedoch bei aller Divergenz in der Frage, ob und inwiefern nach Auschwitz noch ein Gott gedacht werden kann, der jeweils anderen Position zumindest Respekt gezollt.27

      Die Theodizeeproblematik geht in ihrer modernen Fassung zwar auf Leibniz zurück, hat in ihrem Kern – der Frage, wie Gott angesichts der Übel gerechtfertigt werden kann – ihre erste große Ausdeutung jedoch bereits in der Klage Hiobs angesichts des ihm widerfahrenen, für ihn nicht mehr nachvollziehbaren Leides erfahren. Der griechische Philosoph Epikur hat dieser Problematik dann die erste logifizierte Fassung gegeben: Der Philosoph, der die Vermeidung von Schmerz zur Maxime seiner Philosophie erhoben hatte, soll auf die Frage, warum Gott das Leid zulassen könne, geantwortet haben: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“28 Die Präzision dieser Deduktionen, mit denen die prinzipiellen Möglichkeiten, das Verhältnis Gottes zum Übel zu denken, ausgelotet waren, sind unüberbietbar. Alle Diskurse der Theodizee, mit welchem Raffinement sie auch immer geführt wurden, standen, wenn auch oft unausgesprochen, vor dem Problem, Epikurs Schlußfrage beantworten zu müssen, weil alle anderen Möglichkeiten unzumutbar oder undenkbar erschienen. Genau diese Frage aber bestimmte letztlich auch das Nachdenken von Günther Anders und Hans Jonas über Gott nach Auschwitz.

      In seinen zum Teil fingierten tagebuchartigen Aufzeichnungen Ketzereien hat Günther Anders die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Massenmorde des zwanzigsten Jahrhundert in aller Radikalität und Naivität noch einmal gestellt. Im Rahmen einer Fragebogenaktion wird der Philosoph von einem Fernsehjournalisten mit der Frage konfrontiert: „Glauben Sie an Gott, wenn nein, warum nicht.“ Auf diese – sogar in seinen „unzimperlichen“ Ohren „ungehörige“ – Frage folgt ein Anderssches Lehrstück, an das sich der Journalist, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, wohl noch lange erinnert hat: „Erst einmal teilte ich ihm schlicht mit, daß ich nicht wüßte, was mit dem Wort ‚glauben’ gemeint sei. Sein Unterkiefer fiel herunter, so als hätte ich in präzedenzloser Weise einen durch den Fernsehauftrag automatisch mitgeltenden Vertrag gebrochen. […] ‚Wenn es [Gott] gibt’, sprach ich sehr langsam, ‚dann ist er einer, der Auschwitz und Hiroshima nicht verhindert hat. […] Er ist also einer, der, die Hände im Schoß, diese beiden Ereignisse zugelassen hat. […] Ist solch ein Gott ein gerechter Gott? Wäre ein solcher Gott ein gerechter Gott? Ein liebender Gott? Ein barmherziger Gott? Einer, zu dem wir beten dürften, ohne uns zu entwürdigen? Einer, den wir anbeten dürften, ohne uns zu schämen? Ohne uns zum Komplizen seines Zulassens zu machen? […] Finden Sie nicht, dann schon besser kein Gott?’“29

      Mit Blick auf die Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts – und Anders nennt konsequent Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug – steigert der bekennende Atheist stakkatoartig die Argumente, die, wenn auch in anderer Form, seit Leibniz gegen die Verteidigung Gottes vorgebracht werden, zu einem historischen Anti-Gottesbeweis. Angesichts dessen, was in diesem Jahrhundert Menschen anderen Menschen angetan haben, angesichts der vollständigen und systematischen Vernichtung ganzer Populationen und Völker ist ein barmherziger Gott nicht mehr vorstellbar. Auf die Freiheit des Menschen, über die Gott keine Macht habe, will sich Anders dabei erst gar nicht einlassen: denn er spricht aus der Perspektive der Opfer. Deren Leiden hätte einen existierenden Gott zu einem Eingreifen bewegen müssen. Da dies jedoch nicht geschah, kann Gott nicht existieren. Daß Auschwitz – nicht Hiroshima – vielleicht gerade deswegen zum Kern einer säkularen negativen Theologie werden konnte, hat Anders allerdings nicht intendiert – eher im Gegenteil. In einem wohl ebenfalls nicht ganz authentischen Gespräch mit einem Priester auf einer Bahnfahrt von Bad Ischl nach Wien nennt Anders den Glauben an einen Gott, der Auschwitz „zugelassen“ hat, geradezu eine „Blasphemie“ und fährt dann – gegen die hilflosen Einspruchsversuche des Priesters – fort: „‚Oder meinen Sie, er [Gott] habe davon [von Auschwitz] sowenig gewußt wie das deutsche Volk seit dem Jahre 1945? Das heißt: gewußt, aber nichts davon wissen wollen. Und die Frage ist nicht nur an Sie gestellt. Sondern auch an die Rabbiner. Und an alle Nachfahren der sechs Millionen. Zuweilen frage ich mich sogar, ob es wirklich so groß gewesen sein kann, mit den Preisungen dessen, der dies zuließ, auf den Lippen in die Gasöfen hineinzuziehen. Ob das nicht – aber ich wage das aus Respekt vor dem Unsäglichen, das mir ohne Verdienst erspart geblieben ist, nur ganz leise zu fragen – ob dieser Preisgesang vielleicht nicht etwas …’ Das Wort ‚unwürdig’ wagte ich nicht auszusprechen. Und ließ dieses Gespräch versanden.“30

      Hans Jonas stellte sich in hohem Alter in einem 1984 gehaltenen Vortrag an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen ebenfalls noch einmal der Frage nach dem Gottesbegriff nach Auschwitz.

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