Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
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1 Die indische Bevölkerung machte 40 % der Menschen aus, die in den nichtkommunistischen unterentwickelten Ländern leben
2 Zwei britische Wissenschaftler, das Ehepaar Ussem und Ussem, hatten 1955 eine Pilotstudie „Western Educated Man in India“ vorgelegt, worauf meine Untersuchung hätte sinnvoll aufbauen können;
3 Seit dem zweiten Weltkrieg kamen die meisten im Westen studierenden Ausländer aus Indien, dies bietet somit die Möglichkeit, ein sinnvolles Sample zu ziehen;
4 Rückkehrende indische Studierende verteilen sich auf die USA, England, die Bundesrepublik und in etwas geringerer Zahl auf die UdSSR. Dies würde die Möglichkeit erschließen, den Einfluß der verschiedenen Universitätssysteme zu untersuchen;
5 Die kulturelle Unterschiedlichkeit in Indien könnte eventuell die Möglichkeit einer Übertragung der Schlußfolgerungen dieser Untersuchung auf andere „unterentwickelte Gebiete“ rechtfertigen.
Wäre auch die dritte Untersuchung so verlaufen wie meine ersten beiden, würde ich vieles nicht wissen. Wir würden nicht mit einem Frachtschiff in Bombay angekommen sein, sondern mit einem Flugzeug in Neu Delhi. Bewilligte Forschungsaufträge sind termingebunden. Da bleibt keine Zeit für eine Reise mit einem Frachtschiff. Nach meiner ebenso reibungslos abgelaufenen Habilitation wäre ich ein Fachidiot in Fragen des „Auslandsstudiums“, oder des „interkulturellen Lernens“ geworden. Aber zurück zu der wirklichen Geschichte.
Winfried Böll von der Carl–Duisberg–Gesellschaft ist von der Konzeption der neuen Untersuchung angetan und denkt über eine Kontrollgruppe von „Praktikanten“ nach. Inzwischen pendelt er zwischen Köln und Bonn. Er hält sich immer mehr in Bonn, im „Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ auf. Zunächst als Berater, später als Planer und leitender Beamter. Böll meint noch im Herbst 1962, daß mein Antrag im neuen Ministerium, geleitet von Walter Scheel, ein Selbstgänger sein wird. Spätestens bis Ende Januar 1963 wird er bewilligt sein. Wir stellten den Antrag am 16. November 1962. Titel der Untersuchung: „Künftige Elite oder wurzellose Intellektuelle? Eine Untersuchung über die Auswirkung des Auslandsstudiums junger Inder auf den Modernisierungsprozeß ihres Landes nach ihrer Rückkehr.“
Zwischenzeitlich ist die Veröffentlichung der ersten Untersuchung auch als meine Promotionsarbeit gesichert. Sie soll als Band 10 in der Reihe „Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie“ herausgegeben von Prof. Dr. René König im Verlag Kiepenheuer & Witsch in Köln erscheinen. In dieser Reihe ist die Habilitationsarbeit von Peter Heintz als Band 7 erschienen. Scheuch, Rüschemeier und Daheim haben vor mir promoviert. Ihre Promotionsarbeiten sind nicht in dieser Reihe, nicht als Buch publiziert. Der Verleger Dr. Witsch gratuliert mir in Gegenwart von König, weil ich als erster ein Autorenhonorar in dieser Reihe bekomme. Meine Promotionsarbeit erscheint im November 1962 unter dem Titel „Farbige unter Weißen“ mit einem Vorwort des Herausgebers. Darin heißt es zu Beginn:
„Wenn etwas den Nutzen der empirischen Sozialforschung augenfällig demonstrieren kann, so ist es die vorliegende Untersuchung ... Dabei stellt sich ganz eindeutig heraus, daß die in der Öffentlichkeit sehr stark unterstrichenen Schwierigkeiten der Studenten aus Entwicklungsländern zum Teil eine ganz geringfügige Rolle spielen, evtl. sogar nur individuell bedingte Ausnahmen darstellen, so daß hinter diesen meist vorschnell verallgemeinerten Klischees eine Fülle von unerwarteten neuen Problemen sichtbar wird, die die Problematik des ‚Auslandsstudenten‘ deutlich sichtbar werden läßt. Damit ist ein sehr ernsthaftes Thema angeschnitten, zu dessen Behandlung der Verfasser weit mehr gibt als nur eine Vorbereitung.“
In wenigen Wochen ist die erste Auflage verkauft. Sie ist ein Medienereignis. Vom „Kölner Stadt–Anzeiger“ bis zum „Spiegel“. Vom Fernsehen zu Illustrierten. Auch im europäischen Ausland. Berichte, Interviews, Veranstaltungen. Edward A. Shils, einer der Soziologiepäpste, Wanderer zwischen den Universitäten in Cambridge und Chicago, fragt mich über den Verlag Kiepenheuer & Witsch an, ob ich bereit wäre einen Aufsatz von 10000 Worten für die Zeitschrift „Minerva“ zum gleichen Thema wie im Buch zu schreiben. Honorarangebot: 200,- US-$.
Sauer ist nicht nur das Auswärtige Amt. Viele „farbige“ Studierende sind erbost. Vor allem bei dem Befund, daß sie eigentlich ihr Land nicht repräsentierten, weil ihr sozialer Hintergrund sie als eine überprivilegierte kleine Minderheit ausweist. Die Emotionen reichen von Beschimpfungen bis zu anonymen Morddrohungen. Auch König wird nicht von Morddrohungen verschont. Die philosophische Fakultät organisiert eine öffentliche Veranstaltung. Es geht hoch her, leider nicht immer einer Veranstaltung der Universität würdig. Mit Medienpräsenz und Polizeischutz. Der Historiker Theodor Schieder wird Jahre später bei seinem Abschied in den Ruhestand vom „Kölner Stadtanzeiger“ gefragt, was seine erfreulichste und schlimmste Erfahrung an der Kölner Universität gewesen sei. Seine schlimmste Erinnerung soll diese fast gewalttätige und emotionalisierte Veranstaltung unter Polizeischutz gewesen sein.
Dem Medienrummel folgen Einladungen zu Vorträgen, Rundfunksendungen, Rundfunk– und Fernsehdiskussionen und Aufsätze. König und ich treten meist gemeinsam auf: der Lehrer und sein – wie König es zu formulieren pflegt – „hochentwickelter unterentwickelter Schüler“. So werde ich auf eine joviale Weise auch von König vermarktet. Er rechnet fest damit, daß der Antrag beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) bewilligt wird. Wie sehr er damit rechnet, belegt ein kurzes Schreiben, das er mir am 4. Januar 1963 geschrieben hat:
„Mein lieber Herr Aich, anbei die Adresse von Mrs. Sabine Braun in Bombay, die früher als Fräulein Sabine Nipperdey bei uns studiert hat. Falls Sie Ihr Projekt in Indien verwirklichen können, wäre Frau Braun sehr daran interessiert, an Ihrem Projekt teilzunehmen. Sie hat bei uns eine vorzügliche Diplomarbeit geschrieben, so daß Sie in ihr eine wirkliche Hilfe hätten. Mit allen guten Wünschen und herzlichen Grüßen bin ich stets Ihr René König.“
Nipperdey ist der bekannte Arbeitsgerichtspräsident und Arbeitsrechtler an der Universität Köln. Nicht nur König und ich sind „ins Geschäft“ gekommen, sondern auch einige andere bestallte Soziologen. Aber für mich sind die Honorare für die folgenden Monate das einzige Einkommen. Interviews im Fernsehen und der „lnternationale Frühschoppen“ machen mein Gesicht bekannt. So werde ich in einer Gaststätte der Heidelberger Innenstadt von dem damals jüngsten Soziologieprofessor aller Zeiten, Ralf Dahrendorf, beglückwünscht, durchaus neidvoll. „Farbige unter Weißen“ widersprach seiner bekundeten Überzeugung, als er noch wissenschaftlicher Assistent in Saarbrücken war: „die Karrieren der Wissenschaftler werden mit dem Zentimetermaßstab bestimmt.“ Wenige Wochen vorher, anläßlich seines Vortrags auf Einladung Königs in Köln, schenkte er mir kaum Beachtung, als König mich ihm vorstellte. Natürlich mit seinem „jovialen“, latent rassistischen Spruch: unser „hochentwickelter Unterentwickelter“.
Horst Krüger, Schriftsteller, leitet auch die Abteilung „Kulturelles Wort“ beim Südwestfunk in Baden–Baden, nimmt eine „Nachtprogrammdiskus-sion“ über das Buch „Farbige unter Weißen“ auf. Teilnehmer sind auch K. W. Bötticher, René König und Helga Pross. Thema: Fördern wir unsere farbigen Studenten richtig? Horst Krüger will vor der Aufnahme, nicht nur scherzhaft, von mir wissen, wie man sich fühlt, wenn man gerade „einen Bestseller gelandet“ hat!
Winfried Böll, mit dem ich viele