Preis des aufrechten Gangs. Prodosh Aich
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An den großen Pfützen am Straßenrand merken wir, daß der nachmittägliche Monsunregen schon da gewesen ist. Es ist nicht mehr heiß. Die Luft ist nicht feucht. Die Sonne scheint wieder. Vor allem in Bombay war die Feuchtigkeit in der Luft so hoch, daß wir ständig schwitzten. Auch in den Morgenstunden, als wir in den Zug stiegen. Selbst im Winter soll die Luftfeuchtigkeit in Bombay hoch sein. Im Sommer erreicht sie häufig über 95 %.
Die kurze Fahrt erzählt uns augenscheinlich, warum Jaipur als rosa Stadt (Pink city) weltweit bekannt ist. Die Maharajas von Jaipur brachten das Kunststück fertig, sich den Rajputs unähnlich aus allen kriegerischen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Als die Moguls fest im Sattel saßen und die Kriegsgefahren gebannt waren, ließ Maharaja Jai Singh vor 250 Jahren die Stadt Jaipur auf dem Reißbrett planen und bauen. Auf ebener Erde unweit von seinem auf einem Berg gelegenem Palast Amber. Gerade breite Straßen, einheitlicher Baustil, quadratische Grundrisse, einheimische rosarote Natursteine als Baumaterial. Um die Stadt herum eine hohe Mauer. Vier riesige Eingänge, „Gates“ genannt, in vier Himmelsrichtungen. Die Stadt ist natürlich in allen Richtungen gewachsen, also längst über die Stadtmauern hinaus. Der einheitliche Baustil ist aber geblieben. Trotz der Bonbonfarbe wirkt die Stadt nicht kitschig. Der Übergang vom goldgelben Sand zu dem etwas rötlicheren Naturstein, der mit unregelmäßigen Fugen in Häusermauern verarbeitet ist, und schließlich das Übermalen der Fugenflächen in Rosarot bilden eine einzigartig angenehme Einheit. Die Stadt Jaipur ist schön und seit je her eine Attraktion für Touristen.
Wir passieren stadtauswärts das südliche Gate. Außerhalb der Gates werden die Straßen noch breiter. Kreuzungen sind mit Rondell gesichert. Die hügelige Landschaft dieses Teils Rajasthans ist schon im südlichen Stadtteil sichtbar. Die Wüste auch. Die Stadt wächst nach Süden, indem immer mehr Wüste wohnbar gemacht wird. Unmittelbar vor dem Campus auf der linken Straßenseite auf einem kleinen Hügel sehen wir einen Palast, einer der Paläste der Maharani von Jaipur. „Motidungi“ heißt er. Wie eine Bildpostkarte. Aber nicht mehr dauerhaft bewohnt.
Unterhalb dieses Hügels ist die Nordseite des Campus nur durch eine breite Straße nach Osten getrennt. Die Universität ist ein großzügig angelegter Campus, auch an der linken Seite einer der Hauptausfallstrassen nach Süden. Gegenüber dem Campus, getrennt durch diese Allee, ist ein neu entstandenes Wohngebiet, aber nicht so großzügig angelegt wie der Campus. Verständlich. Grundstücke gegenüber der Universität sind gefragt und deshalb auch teuer. Ähnlich wie die Stadt ist auch der Campus quadratisch angelegt und mit Gates versehen. Der Campus hat mehrere Gebäudekomplexe, weitläufig, getrennt nach Fakultäten. Im gleichen Stil wie die Paläste in der Stadt. Rechts von dem Hauptportal, am westlichen Rand des Campus, ist die Hauptverwaltung. Etwa 500 Meter weiter südwärts ist das „University Guest House“. Gebaut im gleichen märchenhaften Stil, von der Straßenseite mit Mauern umgeben. Von dem Gate führt ein Weg durch eine Riesentür zur Empfangshalle. Sie ist wie in einem Hotel. Ein Durchgang zu der Innenseite. Die Innenseite stellt ein offenes „U“ dar und ist umgeben von weitläufigen, gepflegten Rasen. Satt grün, umrandet mit goldgelbem Sand. Auf der linken Seite sind die einzigen Gästezimmer zur ebenen Erde. Auf der rechten Seite ist ein großer Saal, viel zu groß für eine „Dining Hall“. Es ist eigentlich eine Vielzweckhalle für Feierlichkeiten. Sie fungiert auch als eine Bühne für Aufführungen aller Art. Neben dieser Halle befinden sich die Wirtschaftsräume auf der anderen Seite vom offenen „U“. Im ersten Stock sind nur Gästezimmer. Großzügig ausgelegt.
Die Temperatur wird gegen Abend angenehmer. Die Dunkelheit bricht plötzlich ein. Ohne Dämmerung. Wie es in den Tropen und Subtropen üblich ist. Wir haben keine Zeit, viel auszupacken. Wir trinken Tee, ruhen etwas aus, machen uns anschließend frisch. Es ist „Dinner–Zeit“. Der Eßsaal ist nicht ganz leer. Für uns war das Essen bereits bestellt. Europäische Küche, wie sie in Indien kultiviert wird. Nach dem Abendessen sitzen wir auf dem Rasen. Bequeme Rattansessel– und tische. Draußen ist es schon fast kühl. Eine leichte Brise. Nicht stark genug, um einem die Moskitos vom Leib zu halten. Wir bekommen noch Besuch. Mrs. Unnithan, eine Niederländerin, heißt uns willkommen und erzählt: Ja, die Moskitos! Sie verschwinden erst mit den Sandstürmen, die regelmäßig in den Monaten April bis Juni kommen. Aus dem Süden. Wie eine rote hohe Wand. Blitzschnell. Dann wird es kurze Zeit dunkel. Selbst fest geschlossene Fenster helfen da nicht. Nach dem Sturm muß die Wohnung ausgekehrt werden. Der feine Sand findet seinen Weg überallhin. Jaipuries, die es sich leisten können, machen eben Sommerurlaub.
Ich bin schon lange nicht mehr bei dem „small-talk“. Mich beschäftigt anderes. Wie wird der Tag morgen sein? Mein erster Arbeitstag. Meine Frau hat keinen „Kulturschock“ bekommen. Auch ich werde einen mächtigen Kulturschock erleiden, hieß es immer wieder im Institut in Köln. Bei meiner Entfremdung! Fehlanzeige, zumindest bislang. Tritt der Kulturschock auch dann auf, wenn der Vorgang bekannt ist und gar erwartet wird? Ist es nicht wie bei den sonstigen sozialwissenschaftlichen Prognosen? Diese treffen ja bekanntlich selten ein, weil die Menschen sich nach der Prognose angeblich anders verhalten würden, als wenn diese nicht gemacht worden wären. Na ja. Ich werde über meinen Kulturschock erst nachdenken, wenn meine Frau einen solchen erlebt hat.
*****
Heute bin ich erstaunt, daß ich einen ruhigen Schlaf in der ersten Nacht in Jaipur hatte. Nicht wegen des ständigen Geräusches des Ventilators in der stillen, wirklich stillen Nacht gelegentlich gestört durch das Summen von Moskitos. Sie sind zahlreich und bekanntlich beißen diese Viecher auch. Nicht die Störung der stillen Nacht, nein, ich meine etwas anderes.
Spätestens nach unserer Ankunft – ein Lebensabschnitt abgeschlossen und ein neuer noch nicht begonnen – hätte ich mir Zeit nehmen müssen, über vieles nachzudenken. Schon viel früher hätte ich mir Zeit zum Nachdenken nehmen müssen. Und auch wirklich nachdenken! Viele unübersehbare Ungereimtheiten habe ich nicht einmal wahrgenommen. Ich bin Sozialwissenschaftler, vertraut mit der Forschung über Vorurteile, vertraut mit Wahrnehmungstheorien, vertraut mit Logik und Widerspruch, dennoch erkenne ich nicht offensichtliche Widersprüche in meiner bisherigen Karriere. Ist es die den Sozialwissenschaftlern eigene Betriebsblindheit oder ist dies meine sehr spezifische Blindheit, verursacht durch den Rausch der ständigen Medienpräsenz in Deutschland nach „Farbige unter Weißen“?
Die Versuchung ist groß, mit dem heutigen Bewußtsein neunmalkluge Analysen jener Jahre der „lndischen Universität“ zu machen und alle möglichen Erklärungen zu finden. Deshalb schränke ich mich zunächst ein auf die Beschreibung der Ungereimtheiten und auf Fragen, die daraus zwingend hätten entstehen müssen, aber nicht entstanden waren. So zum Beispiel: Josef Gugler, Deutscher, in der Endphase seiner Promotion im Fach Soziologie, will den Bericht über ein internationales soziologisches Seminar selbst nicht entwerfen, überläßt die Aufgabe einem, der Ausländer ist und erst im 2. Fachsemester Soziologie studiert. Er ist mit meinem Entwurf nicht einverstanden, macht aber keinen Gegenentwurf. Nun gut! Aber bei der Abgabe, wie schon berichtet, distanziert er sich von dem Bericht auf eine subtile Weise. König hatte keine Vorbehalte. Und wir gingen zur Tagesordnung über. Hätten wir nicht zumindest fragen müssen, welche Qualität der Studiengang Soziologie eigentlich hat, wenn es zwischen einem Studienbeginner und einem mit der Promotion das Studium abschließenden keinen Qualitätsunterschied gibt. Ich weiß nicht, ob Josef Gugler diese Frage gestellt hatte. Ich weiß, daß ich diese an sich naheliegende Frage nicht gestellt habe.
Wie berichtet, gelange ich nach Beteiligung an den Veranstaltungen über die Methodologie zu der Erkenntnis, ich müßte mir selbst jene Kenntnisse aneignen, die für das „Zusammenbasteln“ des Erhebungsinstrumentes für das Unesco–Projekt erforderlich wären. Und ich tue dies mit Erfolg. Ich stelle aber nicht die Frage, welchen Wert universitäre methodologische Veranstaltungen haben, die weniger als ein Autodidakt zustande bringen.