Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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Als die Kirchturmuhr Viertel nach vier schlug, öffnete sich die Tür des Frühstückszimmers, und Mrs. Vanstone durchquerte allein die Diele. Sie hatte vergeblich versucht, ihre Fassung wiederzugewinnen, und war so unruhig, dass sie nicht still liegen und schlafen konnte. Einen Augenblick lang lenkte sie ihre Schritte in Richtung der Veranda – dann drehte sie sich, sah sich um, wusste nicht, was sie als Nächstes tun oder wohin sie gehen sollte. Während sie noch zögerte, zog die halb geöffnete Tür des Studierzimmers ihres Mannes ihre Aufmerksamkeit auf sich. Das Zimmer schien ein trauriges Durcheinander zu sein. Schubladen standen offen, Mäntel und Hüte, Rechnungsbücher und Papiere, Pfeifen und Angelleinen waren überall verstreut. Sie ging hinein und drückte die Tür zu – aber so sanft, dass sie ein Stück offen blieb. „Es wird mir Freude machen, dieses Zimmer in Ordnung zu bringen“, dachte sie bei sich. „Ich möchte gern noch etwas für ihn tun, bevor ich hilflos im Bett liege.“ Sie begann, seine Schubladen aufzuräumen, und fand dabei sein offen daliegendes Kontobuch. „Mein armer Liebling, wie achtlos er ist! Wenn ich nicht zufällig hier hereingeschaut hätte, die Diener hätten alle seine Angelegenheiten sehen können.“ Sie brachte die Schubladen in Ordnung und wandte sich dann dem wirren Wust auf einem Beistelltisch zu. In dem Durcheinander der Papiere kam ein kleines Notenheft zum Vorschein, in dem mit verblichener Tinte ihr Name stand. Im ersten Glück der Entdeckung errötete sie wie ein junges Mädchen. „Wie gut er zu mir ist! Er erinnert sich an mein altes Notenheft und hebt es meinetwegen auf.“ Als sie sich an den Tisch setzte und das Heft aufschlug, kam die verflossene Zeit in aller Zärtlichkeit zu ihr zurück. Die Uhr schlug die halbe Stunde, schlug Dreiviertel – und immer noch saß sie dort, das Notenheft auf dem Schoß, und träumte glückselig von den alten Liedern; dachte voller Dankbarkeit an die goldenen Tage, als seine Hand für sie die Seiten umgeblättert hatte, als seine Stimme die Worte geflüstert hatte, die das Gedächtnis einer Frau niemals vergisst.
Norah blickte von dem Buch auf, in dem sie gerade las, und sah zu der Uhr auf dem Kaminsims in der Bibliothek.
„Wenn Papa mit der Eisenbahn zurückkommt, ist er in zehn Minuten hier“, sagte sie.
Miss Garth fuhr hoch und hob den Blick schläfrig von dem Buch, das ihr gerade aus der Hand fiel.
„Ich glaube nicht, dass er mit dem Zug kommen wird“, erwiderte sie. „Er wird mit dem Einspänner des Müllers zurücktraben, wie Magdalen es so schnoddrig ausgedrückt hat.“
Gerade als sie diese Worte sagte, klopfte es an der Tür. Der Diener erschien und wandte sich an Miss Garth.
„Jemand möchte Sie sehen, Madam.“
„Wer ist es?“
„Ich weiß nicht, Madam. Ich kenne den Mann nicht – aber er sieht ehrbar aus und sagte ausdrücklich, er wolle Sie sehen.“
Miss Garth ging hinaus in die Diele. Der Diener schloss die Tür der Bibliothek hinter ihr und zog sich die Küchentreppe hinunter zurück.
Der Mann stand gerade innerhalb der Tür auf der Fußmatte. Seine Blicke irrten umher, sein Gesicht war blass – er sah schlecht aus und wirkte verängstigt. Er hantierte nervös mit seiner Kappe und schob sie vorwärts und rückwärts und von einer Hand in die andere.
„Sie wollten mich sprechen?“, sagte Miss Garth.
„Ich bitte um Verzeihung, Madam – Sie sind nicht Mrs. Vanstone, nichtwahr?“
„Ganz bestimmt nicht. Ich bin Miss Garth. Warum fragen Sie?“
„Ich bin Mitarbeiter im Büro des Bahnhofsvorstehers von Grailsea…“
„Ja?“
„Man hat mich hergeschickt…“
Wieder hielt er inne. Seine Blicke wanderten hinunter zur Fußmatte, und seine ruhelosen Hände zerknüllten die Kappe immer heftiger. Er feuchtete sich die trockenen Lippen an und versuchte es noch einmal.
„Man hat mich in einer sehr ernsten Angelegenheit hergeschickt.“
„Ernst für mich?“
„Ernst für alle hier im Haus.“
Miss Garth trat einen Schritt näher auf ihn zu – warf ihm einen unverwandten Blick ins Gesicht. Ihr wurde trotz der sommerlichen Hitze kalt. „Halt!“, sagte sie mit plötzlichem Misstrauen und blickte besorgt zur Tür des Frühstückszimmers. Sie war fest geschlossen. „Sagen Sie mir das Schlimmste; und sprechen Sie nicht laut. Es hat einen Unfall gegeben. Wo?“
„Auf der Eisenbahnstrecke. In der Nähe des Bahnhofs von Grailsea.“
„Der nördliche Zug nach London?“
„Nein. Der südliche Zug um ein Uhr fünfzig…“
„Gott der Allmächtige helfe uns! Der Zug, mit dem Mr. Vanstone nach Grailsea gefahren ist?“
„Eben dieser. Man hat mich mit dem nördlichen Zug hergeschickt. Die Strecke wurde gerade rechtzeitig wieder frei gemacht. Sie wollten nicht schreiben – sie haben gesagt, ich muss ‚Miss Garth‘ aufsuchen und es ihr sagen. Sieben Fahrgäste sind schwer verletzt. Und zwei…“
Die nächsten Worte erstarben auf seinen Lippen; er hob in tiefem Schweigen die Hand. Mit Augen, die sich vor Entsetzen weit geöffnet hatten, hob er die Hand und zeigte über Miss Garth’ Schulter.
Sie drehte sich ein wenig und sah sich um.
Ihr genau gegenüber, auf der Schwelle des Studierzimmers, stand die Hausherrin. Sie hielt ihr altes Notenheft mit beiden Händen mechanisch umklammert und stand da, ein Gespenst ihrer selbst. Mit einer entsetzlichen Leere im Blick, mit einer entsetzlichen Stille in der Stimme, wiederholte sie die letzten Worte des Mannes:
„Sieben Fahrgäste sind schwer verletzt; und zwei…“
Ihre gequälten Finger lockerten ihren Griff, das Heft entglitt ihnen; sie sank schwer nach vorn. Miss Garth fing sie auf, bevor sie hinstürzen konnte – griff nach ihr und wandte sich, den bewusstlosen Körper der Ehefrau in den Armen, an den Mann, um das Schicksal des Ehemannes zu erfahren.
„Der Schaden ist angerichtet“, sagte sie. „Sie können offen sein. Ist er verletzt oder tot?“
„Tot.“
Kapitel 11
Sie Sonne sank tiefer; kühl und frisch wehte die westliche Brise ins Haus. Während der Abend hereinbrach, kam das fröhliche Läuten der Dorfkirchenglocke immer näher. Feld und Blumengarten spürten den Einfluss der Tageszeit und verströmten ihren süßesten Duft. Die Vögel in Norahs Vogelgehege sonnten sich in der abendlichen Stille und sangen ihr dankbares Lebewohl an den sterbenden Tag.
Die erbarmungslose Routine des Hauses war in ihrem Fortschreiten nur vorübergehend ins Stocken geraten und ging auf entsetzliche Weise ihren täglichen Gang. Die von Panik befallenen Dienstboten suchten blinde Zuflucht in den Pflichten, die der Stunde angemessen waren. Der Diener deckte leise den Tisch für das Abendessen. Die Zofe saß da, in sinnlosem Zweifel wartend, neben sich die Kannen mit heißem Wasser für die Schlafzimmer in ihrer gewöhnlichen Ordnung aufgereiht. Der Gärtner, der die Anweisung erhalten hatte, mit den Rechnungen für das