Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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Читать онлайн книгу Die Namenlosen - Уилки Коллинз страница 31
Aus dem Zimmer drang ein Geräusch an ihr Ohr – das eintönige Rascheln eines Frauenkleides, jetzt fern, jetzt nah, unaufhörlich wandernd von einem Ende des Fußbodens zum anderen. Das Geräusch teilte ihr mit, dass Magdalen in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers hin und her ging. Miss Garth klopfte. Das Rascheln hörte auf; die Tür wurde geöffnet, und das traurige junge Gesicht sah sie an, festgefroren in kalter Verzweiflung; die großen, hellen Augen blickten mechanisch in die ihren, so leer und tränenlos wie zuvor.
Der Anblick traf die treue Frau, die das Mädchen von Kindheit an erzogen und geliebt hatte, mitten ins Herz. Sie nahm Magdalen zärtlich in die Arme.
„Ach, mein Liebes“, sagte sie, „immer noch keine Tränen! Könnte ich dich doch sehen, wie ich Norah gesehen habe! Sprich mit mir, Magdalen – versuche, ob du mit mir sprechen kannst.“
Sie versuchte es und sprach:
„Norah“, sagte sie, „hat keine Gewissensbisse. Er hat nicht Norahs Interessen gedient, als er in den Tod ging: Er hat meinen gedient.“
Mit dieser entsetzlichen Antwort drückte sie ihre kalten Lippen auf Miss Garth’ Wange.
„Lassen Sie es mich allein tragen“, sagte sie und schloss sanft die Tür.
Wieder wartete Miss Garth auf der Schwelle, und wieder ging das raschelnde Geräusch des Kleides hin und her – einmal nahe, einmal fern, hin und her mit einer grausamen, mechanischen Regelmäßigkeit, die noch die wärmste Sympathie frösteln ließ und noch die kühnste Hoffnung einschüchterte.
Die Nacht ging vorüber. Wenn am Morgen noch keine Besserung eintrat, darauf hatte man sich geeinigt, sollte am nächsten Tag der Londoner Arzt gerufen werden, den Mrs. Vanstone vor einigen Monaten konsultiert hatte. Es war keine Veränderung zum Besseren zu erkennen, und man schickte nach dem Arzt.
Als der Vormittag voranschritt, kam Frank vom Cottage und holte Erkundigungen ein. Hatte Mr. Clare seinen Sohn mit der Pflicht betraut, die er tags zuvor selbst erfüllt hatte, weil er nicht willens war, nach dem, was er zu Miss Garth gesagt hatte, noch einmal mit ihr zusammenzutreffen? Es mochte so sein. Frank konnte kein Licht in die Frage bringen. Er sah blass und bestürzt aus. Seine ersten Fragen nach Magdalen zeigten, wie sehr seine schwache Natur durch die Katastrophe erschüttert worden war. Er war nicht fähig, seine eigenen Fragen zu formulieren. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, und die Tränen traten ihm aus freien Stücken in die Augen. Zum ersten Mal wurde Miss Garth seinetwegen warm ums Herz. Kummer trägt etwas Edles in sich – er nimmt jedes Mitgefühl an, ganz gleich, woher es kommt. Sie munterte den jungen Mann mit einigen freundlichen Worten auf und nahm zum Abschied seine Hand.
Noch vor dem Mittag kam Frank mit einer zweiten Nachricht zurück. Sein Vater wünschte zu wissen, ob Mr. Pendril nicht an diesem Tag in Combe-Raven erwartet wurde. Wenn man mit der Ankunft des Anwalts rechnete, habe Frank die Anweisung, am Bahnhof bereitzustehen und ihn zum Cottage zu bringen, wo ein Bett zu seiner Verfügung stehen werde. Die Nachricht war für Miss Garth eine Überraschung. Sie zeigte, dass Mr. Clare mit den Absichten vertraut war, deretwegen sein verstorbener Freund nach Mr. Pendril geschickt hatte. War das umsichtige Angebot der Gastfreundschaft von Seiten des alten Mannes ein weiterer indirekter Ausdruck des menschlichen Kummers, den er auf so unnatürliche Weise verheimlichte? Oder war er sich einer geheimen Notwendigkeit für Mr. Pendrils Gegenwart bewusst, über die man die hinterbliebene Familie in vollkommener Unkenntnis gelassen hatte? Miss Garth war zu betrübt und hoffnungslos, als dass sie sich bei einer dieser Fragen hätte aufhalten können. Sie sagte zu Frank, Mr. Pendril werde um drei Uhr erwartet, und schickte ihn mit dankenden Worten wieder weg.
Kurz nachdem er gegangen war, wurden die Ängste um Magdalen, die ihr Geist jetzt zu empfinden in der Lage war, durch eine Nachricht gelindert, die besser war als ihr Erlebnis in der letzten Nacht sie zu hoffen geneigt gemacht hatte. Norahs Einfluss hatte ihre Schwester aufgerichtet, und Norahs geduldiges Mitgefühl hatte den eingeschlossenen Kummer befreit. Magdalen hatte in der Anstrengung, die sie erleichtert hatte, schwer gelitten – zwangsläufig gelitten angesichts einer Natur wie der ihren. Die heilenden Tränen waren nicht sanft gekommen; sie waren mit quälender, leidenschaftlicher Heftigkeit hervorgebrochen – aber Norah war nicht von ihrer Seite gewichen, bis der Kampf vorüber war und die Ruhe eingesetzt hatte. Diese besseren Neuigkeiten hatten Miss Garth ermutigt, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen und die Ruhe zu suchen, die sie so dringend brauchte. Ermattet an Körper und Seele, schlief sie aus schierer Erschöpfung – schlief schwer und traumlos mehrere Stunden. Zwischen drei und vier Uhr am Nachmittag wurde sie von einer Dienerin geweckt. Die Frau hatte einen Umschlag in der Hand – einen Umschlag, hinterlassen von Mr. Clare dem Jüngeren mit einer Nachricht, die verlangte, man solle das Schreiben unverzüglich Miss Garth aushändigen. Der Name, der an der unteren Ecke des Kuverts geschrieben stand, lautete „William Pendril“. Der Anwalt war eingetroffen.
Miss Garth öffnete das Kuvert. Nach einigen einleitenden Sätzen des Mitgefühls und Beileids teilte der Verfasser mit, er sei bei Mr. Clare angekommen; anschließend äußerte er, offensichtlich in seiner beruflichen Funktion, eine höchst verblüffende Bitte.
„Wenn“, so schrieb er, „im Befinden von Mrs. Vanstone irgendeine Veränderung zum Besseren eintreten sollte – ob es sich um eine Besserung für eine gewisse Zeit handelt oder um die dauerhafte Genesung, auf die wir alle hoffen –, ersuche ich Sie dringend, mich sofort darüber in Kenntnis zu setzen. Es ist von höchster Wichtigkeit, dass ich mit ihr spreche, sofern sie genügend Kraft aufbringt, um mir für fünf Minuten ihre Aufmerksamkeit zu schenken, und sofern sie in der Lage ist, nach Ablauf dieser Zeit mit ihrem Namen zu unterschreiben. Darf ich Sie bitten, mein Anliegen in strengster Vertraulichkeit an die verantwortlichen Mediziner weiterzuleiten? Diese werden verstehen, und auch Sie werden verstehen, welche entscheidende Bedeutung ich diesem Gespräch beimesse, wenn ich Ihnen sage, dass ich es eingerichtet habe, alle anderen geschäftlichen Ansprüche, die an mich gestellt wurden, ihm unterzuordnen; und dass ich mich in Bereitschaft halte, um Ihrer Aufforderung zu jeder Stunde bei Tag oder bei Nacht nachzukommen.“
Mit diesen Worten endete der Brief. Miss Garth las ihn zweimal. Beim zweiten Lesen gingen die Bitte, die der Anwalt hier an sie richtete, und die Abschiedsworte, die Mr. Clare am Tag zuvor über die Lippen gekommen waren, in ihrem Geist eine unbestimmte Verbindung ein. Neben dem ersten und vordringlichen Anliegen der Genesung von Mrs. Vanstone gab es ein zweites, ein ungewisses Interesse, das Mr. Pendril und Mr. Clare bekannt war. Wen betraf es? Die Kinder? Waren sie durch eine neue Widrigkeit bedroht, die durch die Unterschrift ihrer Mutter abgewendet werden konnte? Was bedeutete das? Bedeutete es, dass Mr. Vanstone gestorben war, ohne ein Testament zu hinterlassen?
In ihrer Betrübnis und Verwirrung war Miss Garth nicht in der Lage, so für sich selbst zu überlegen, wie sie in glücklicheren Zeiten überlegt hätte. Hastig eilte sie in den Vorraum von Mrs. Vanstones Zimmer; und nachdem sie Mr. Pendrils Stellung zur Familie erläutert hatte, drückte sie seinen Brief den Medizinern in die Hand. Beide antworteten ohne Zögern in dem gleichen Sinn. Mrs. Vanstones Zustand machte ein Gespräch, wie der Anwalt es wünschte, zu einem Ding der völligen Unmöglichkeit. Wenn sie sich von ihrer derzeitigen Erschöpfung erholte, werde man Miss Garth sofort über die Besserung in Kenntnis setzen. Vorerst jedoch lasse sich die Antwort an Mr. Pendril in einem Wort zusammenfassen: unmöglich.
„Ihnen ist klar, welche Wichtigkeit Mr. Pendril dem Gespräch beimisst?“, sagte Miss Garth.
Ja: Beiden Ärzten war es klar.
„Mein Geist ist verirrt und verwirrt in dieser entsetzlichen Ungewissheit, meine Herren. Kann einer von Ihnen erraten, warum die Unterschrift gewünscht wird? Oder was der Gegenstand des Gesprächs sein könnte? Ich habe Mr. Pendril nur dann gesehen, wenn er früher hier zu Besuch war: Ich