Die Namenlosen. Уилки Коллинз
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„Sie sind nach London gefahren, um zu heiraten.“
Mit dieser Antwort legte er ein Blatt Papier auf den Tisch. Es war die Heiratsurkunde der verstorbenen Eltern, und sie trug das Datum des zwanzigsten März achtzehnhundertsechsundvierzig.
Miss Garth bewegte sich nicht und sagte nichts. Die Urkunde lag unbeachtet vor ihr. Ihre Blicke waren am Gesicht des Anwalts festgeheftet; ihr Geist war betäubt, ihre Sinne hilflos. Wie er erkannte, waren alle seine Bemühungen, den Schock der Offenbarung abzumildern, vergeblich gewesen; er spürte die unbedingte Notwendigkeit, sie aufzumuntern, und wiederholte energisch und deutlich die schicksalsschweren Worte.
„Sie sind nach London gefahren, um zu heiraten“, sagte er. „Versuchen Sie, sich zu beruhigen. Versuchen Sie, sich zuerst die schlichte Tatsache klar zu machen; die Erklärung kommt später. Miss Garth, ich spreche die unglückselige Wahrheit! Im Frühling dieses Jahres verließen sie ihr Haus; sie lebten zwei Wochen in London in strengster Abgeschiedenheit; nach Ablauf dieser Zeit wurden sie amtlich getraut. Das hier ist eine Abschrift der Urkunde, die ich mir erst letzten Montag beschafft habe. Lesen Sie selbst das Datum der Eheschließung. Es ist Freitag, der zwanzigste März – der März des gegenwärtigen Jahres.“
Während er auf die Urkunde deutete, bewegte der schwache Lufthauch zwischen den Sträuchern unter dem Fenster, der Miss Garth beunruhigt hatte, wiederum die Blätter. Dieses Mal hörte er es auch selbst und drehte das Gesicht, um die Brise darauf spielen zu lassen. Die Brise kam nicht; kein Lufthauch, der so stark gewesen wäre, dass er ihn hätte spüren können, strömte ins Zimmer.
Miss Garth richtete sich mechanisch auf und las die Urkunde. Sie schien bei ihr keinen besonderen Eindruck zu hinterlassen; verloren und fassungslos legte sie das Papier beiseite. „Zwölf Jahre“, sagte sie mit leiser, hoffnungsloser Stimme, „zwölf stille, glückliche Jahre habe ich in dieser Familie gelebt. Mrs. Vanstone war meine Freundin; meine liebe, geschätzte Freundin – ich könnte fast sagen: meine Schwester. Ich kann es nicht glauben. Haben Sie ein wenig Geduld mit mir, Sir, ich kann es noch nicht glauben.“
„Es wird Ihnen helfen, es zu glauben, wenn ich Ihnen mehr erzähle“, sagte Mr. Pendril. „Sie werden mich besser verstehen, wenn ich Sie mit in die Zeit von Mr. Vanstones jungen Jahren nehme. Ich bitte jetzt noch nicht um Ihre Aufmerksamkeit. Warten wir ein wenig, bis Sie sich erholt haben.“
Sie schwiegen einige Minuten. Der Anwalt nahm ein paar Briefe aus der Tasche, konsultierte sie aufmerksam und steckte sie wieder ein. „Können Sie mich jetzt anhören?“, fragte er freundlich. Sie neigte zur Antwort den Kopf. Mr. Pendril ging einen Augenblick mit sich selbst zu Rate. „In einem Punkt muss ich Sie warnen“, sagte er. „Wenn der Aspekt von Mr. Vanstones Charakter, den ich Ihnen jetzt erläutern werde, in mancher Hinsicht von Ihren späteren Erfahrungen abweicht, bedenken Sie bitte, dass er, als Sie ihn vor zwölf Jahren kennen lernten, ein Mann von vierzig Jahren war; als ich das erste Mal mit ihm zusammentraf, war er ein junger Bursche von neunzehn.“
Seine nächsten Worte lüfteten den Schleier und zeigten die unwiderrufliche Vergangenheit.
Kapitel 13
Das Vermögen, das Mr. Vanstone besaß, als Sie ihn kennen lernten“, begann der Anwalt, „war ein Teil und nur ein Teil des Erbes, das ihm nach dem Tod seines Vaters zugefallen war. Mr. Vanstone der Ältere war Fabrikant in Nordengland. Er heiratete frühzeitig, und die Kinder aus dieser Ehe waren sechs oder sieben an der Zahl – ganz sicher bin ich mir nicht. Zuerst kam Michael, der älteste Sohn. Er lebt noch und ist heute ein alter Mann von über siebzig Jahren; die Zweite war Selina, die älteste Tochter, die später heiratete und vor zehn oder elf Jahren gestorben ist. Danach kamen andere Söhne und Töchter, deren früher Tod es unnötig macht, sie im Einzelnen zu erwähnen. Das letzte und mit weitem Abstand jüngste Kind war Andrew, den ich, wie ich Ihnen bereits erzählt habe, erstmals kennen lernte, als er neunzehn war. Mein Vater stand damals gerade im Begriff, sich aus dem aktiven Berufsleben zurückzuziehen; und als ich ihm in seinem Geschäft nachfolgte, rückte ich auch als Familienanwalt in seine Beziehung zu den Vanstones nach.
Zu jener Zeit hatte Andrew gerade sein eigenes Leben begonnen und war in die Armee eingetreten. Nach wenig mehr als einem Jahr im Heimatdienst wurde er mit seinem Regiment nach Kanada abgeordnet. Als er aus England abreiste, ließ er seinen Vater und seinen älteren Bruder Michael in einem ernsthaften Zerwürfnis zurück. Ich brauche Sie nicht damit aufzuhalten, dass ich auf die Gründe für den Streit näher eingehe. Es reicht, wenn ich Ihnen sage, dass der ältere Mr. Vanstone trotz vieler hervorragender Qualitäten ein Mann von wildem, unbezähmbarem Temperament war. Sein ältester Sohn hatte ihm getrotzt, und das unter Umständen, die auch einen Vater von weitaus sanfterem Charakter zu Recht erzürnt hätten; und er erklärte mit unmissverständlichen Worten, er wolle Michaels Gesicht nie wieder sehen. Meinen Beschwörungen und dem Flehen seiner Frau zum Trotz zerriss er in unserem Beisein das Testament, das über Michaels Anteil am väterlichen Erbe bestimmte. So lagen die Dinge in der Familie, als der jüngere Sohn die Heimat in Richtung Kanada verließ.
Einige Monate nachdem Andrew mit seinem Regiment in Quebec eingetroffen war, machte er die Bekanntschaft einer Frau von großer persönlicher Anziehungskraft. Sie kam – oder sagte, sie komme – aus den Südstaaten Amerikas. Diese Frau erlangte sofort Einfluss auf ihn und nutzte ihn zu den niederträchtigsten Zwecken. Sie kannten ja die unbefangene, liebenswürdige, vertrauensselige Natur des Mannes in seinen späteren Jahren – und Sie können sich vorstellen, wie gedankenlos er im Impuls seiner Jugend handelte. Es ist nutzlos, länger bei diesem beklagenswerten Teil der Geschichte zu verweilen. Er war erst einundzwanzig; er war einer unwürdigen Frau blind verfallen; und sie verleitete ihn mit gnadenloser Arglist, bis es zu spät war, sich zurückzuziehen. Mit einem Wort: Er beging den verhängnisvollsten Fehler seines Lebens und heiratete sie.
Sie war klug genug gewesen, in ihrem eigenen Interesse den Einfluss seiner Offizierskollegen zu fürchten; deshalb überredete sie ihn, die geplante Verbindung zwischen ihnen bis zur Zeit der Eheschließungszeremonie geheim zu halten. Das gelang ihr auch, aber sie konnte keine Vorkehrungen gegen die Folgen eines Zufalls treffen. Es waren kaum drei Monate vergangen, da wurde durch eine zufällige Enthüllung klar, was für ein Leben sie vor ihrer Ehe geführt hatte. Ihrem Ehemann blieb nur eine Möglichkeit: die Möglichkeit, sich umgehend von ihr zu trennen.
Welche Auswirkungen die Enthüllung auf den unglückseligen Jungen hatte – denn von seinem Charakter her war er noch ein Junge –, kann man vielleicht anhand des Ereignisses beurteilen, das sich im Gefolge der Offenbarung abspielte. Einer von Andrews vorgesetzten Offizieren – ein gewisser Major Kirke, wenn ich mich recht erinnere – traf ihn in seiner Unterkunft an, wo er an seinen Vater ein Geständnis der beschämenden Wahrheit schrieb. Neben ihm lag eine geladene Pistole. Der Offizier rettete dem jungen Burschen eigenhändig das Leben und vertuschte die skandalöse Angelegenheit mit einem Kompromiss. Da die Ehe vollkommen rechtmäßig geschlossen war und das Fehlverhalten der Frau vor der Zeremonie ihrem Mann keinen Anspruch auf seine Freigabe durch Scheidung verschaffte, konnte man nur an ihr Gespür für ihre eigenen Interessen appellieren. Ihr wurde eine hübsche jährliche Rente zugesichert unter der Bedingung, dass sie an den Ort zurückkehrte, von dem sie gekommen war, dass sie sich nie in England blicken ließ und dass sie nicht mehr den Namen ihres Mannes führte. Hinzu kamen noch weitere vertragliche Bestimmungen. Sie stimmte allem zu, und es wurden private Maßnahmen ergriffen, damit am Ort ihres Rückzuges gut für sie gesorgt war. Was für ein Leben sie dort führte und ob sie alle ihr auferlegten Bedingungen erfüllte, weiß ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie, so weit mir bekannt ist, nie nach England kam, dass sie Mr. Vanstone nie belästigte und dass die Jahresrente ihr über einen lokalen Agenten in Amerika bis zum Tag ihres Todes ausgezahlt wurde. Als