Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Es kann sich also nur um das Wagnis einer Sinndeutung des eigenen Daseins handeln, und dies ist es ja auch ganz eigentlich, wozu ich aufgerufen bin.
Freilich, hier stutze ich aufs neue. Kann aus einem stillen Einzelgeschick, das abseits von dem großen Strom der Zeitgeschicke verlaufen ist, überhaupt so etwas wie ein versteckter Sinn, wie eine absichtliche Führung herausgelesen werden? Ist es nicht ausschließlich eine Sache der Träger des Weltgeschehens, uns zu sagen wie sie wurden, was sie sind, und wohin sie zielen? Das Amt des Dichters ist ein leiseres und so schwer mit Worten zu umzirken. Denn die künstlerischen Befruchtungen gehen im Dunkel vor sich, und das menschliche Leben in seinem Ablauf weiß wenig von sich. Ich habe das Menschenwesen, das ich mit dem Wörtlein »Ich« bezeichnen muss, nie so lange und tief ins Auge gefasst wie die äußeren Erscheinungen, und die Feder, die sich mit ihm beschäftigen soll, ist bei der ungewohnten Aufgabe immer in Versuchung, auf ein Außerpersönliches abzugleiten. Seine Bedeutung für mich bestand vor allem darin, dass es geistiges Auge war, mein Auge, Organ, die Gegenstände wahrzunehmen, und Mittelpunkt, in dem die Ströme des Lebens sich kreuzten, nicht selber Gegenstand der Betrachtung. Wo ich den Blick auf mich selber richten will, sehe ich mich wie dunkel geführt nach dem Unerreichlichen wandern. Indessen habe ich doch stets in meinem Dasein etwas Gleichnisartiges gespürt und sehe die überdauerten Zeiten und Zustände sich in seinem langen Laufe spiegeln. So sei denn der Versuch gemacht, von dem was mitteilbar ist, eine Anschauung zu geben.
Hier muss ich nun zunächst einer persönlichen Eigenheit gedenken, die mir erst ganz spät durch den mir fremden Zwang, mich mit mir selbst wie von außen her zu befassen, ganz deutlich bewusst wurde: dass mir nämlich die Zeit niemals ein linearer Begriff gewesen ist. Die Dinge erschienen mir nicht im Verfolg, eines aus dem anderen abgeleitet und eines das andere ablösend; sie umstanden mich im Ring als zeitlos gleichzeitige Gegenwart. Es gab da nichts eigentlich Vergangenes, nicht Anfang und Ende, Jugend und Alter, sondern der Kreis hielt alles beisammen, im Kreis war das Leben ewig. Keine Entwicklung vollzog sich bei mir linear, sondern immer nur durch Erweiterung des Kreises, der sich durcheinanderschob, mit mir langsam in der Spirale aufstieg und mit zunehmenden Jahren die Dinge nur aus immer zunehmender Höhe zeigte. Meine Lieblingsfächer, denen ich von klein auf leidenschaftlich nachging – auf eigene Hand wie gezwungenermaßen alles was ich trieb –, waren die Mythen, Sagen, Mären der Völker, nicht Geschichte, nicht fertige Literatur; diese stand mir erst an zweiter Stelle – sondern ihr Rohstoff: Volkskunde, Volksgesang, Sprache, Sprachen mit ihrem unterirdisch verschlungenen Wurzelwerk: alles Geistige, was zeitlos und gleichsam vegetativ lebt, war mir natürliche Heimat. Wollte ich mit der Geschichte denken, so bedurfte es einer inneren logischen Umstellung, ich musste aus dem Kreis in die Linie treten. Ebenso geht auch mein eigenes Schaffen nicht linear, sondern im Kreise vor sich, als läge die ganze Arbeit wartend in einer unsichtbaren Tiefe und brauchte nur gehoben zu werden. Wo beginnen? In den seltensten Fällen vom Anfang her, sondern es blitzt vom Boden auf – irgendein Glied der Kette – schnell muss es festgehalten werden, denn schon blitzt es an einer anderen Stelle, an einer dritten und vierten, der Stift darf sich eilen um nachzukommen. So geht es weiter, bald da, bald dort, ohne Zusammenhang. Es sind lauter Stücke des Ganzen, bestimmt die Entwicklung nach einem vorschwebenden aber noch nicht streng festgesetzten Plan zu schieben und dadurch erst volle Klarheit auch in diesen selbst zu bringen, fertige Bausteine, die wenig oder gar nicht mehr zubehauen werden müssen und ihre Stelle im Bauwerk haben, die auf sie wartet. Geht eines dieser Stücke zu Verlust, sodass es willensmäßig ersetzt werden muss, und es findet sich später das Verlorene wieder, dann zeigt sich erst, wie viel frischer, treffender, ursprünglicher die erste Eingebung gewesen. Nun umringen sie mich im Kreis, die von selbst Gekommenen, aber damit erst beginnt, und nicht selten unter großen Wehen, die eigentliche Arbeit: nun sollen sie zu ineinandergreifender Ordnung gefügt und gegliedert, aus dem üppiggesproßten Nebeneinander ein logisches Nacheinander gemacht werden. Und hier fühle ich deutlich, wie sich das elterliche Blut in mir gemischt hat. An Stelle des Chaotischen, das ich als Erbteil meiner höchst genialen, aber allem Planmäßigen abholden, im Urstoff wesenden Mutter in mir kenne, tritt nun das Blut des Vaters mit dem strengen Zwang zur Gesetzlichkeit und lässt mich nicht ruhen, bis ich diese ganze lose Gesellschaft wie eine Koppel wildweidender Fohlen zusammengespannt und zu richtiger Gangart fest in die Zügel genommen habe. Dieser Zwang von der anderen Seite her, ohne den ein bewusstgewolltes, rhythmisch-abgewogenes Kunstgebilde unmöglich wäre, duldet kein romantisches Durcheinander, kein unorganisches Gefüge, und er waltet um so strenger, je größer die Anarchie, durch die er sich durchzuringen hat. Dass eine solche Arbeitsweise nicht erleichternd ist, liegt auf der Hand, aber sie hat den Vorteil, dass sie jedes künstliche, erzwungene Füllsel ausschließt, weil sie immer mehr Stoff zur Verwendung hat als sie aufbrauchen kann, und darum nur Entstandenes, nichts Gemachtes verwendet. Wie der Maler, der sich nie genug tut, unter sein Werk ein pingebat, kein pinxit schreibt, so gibt es auch für meine Arbeit kein Fertigwerden, weil sie mit mir geht, sich dreht, von allen Seiten zugleich wächst, wie das wallende Leben, aus dem sie geholt ist.
Ganz verwickelt wird der Hergang, wenn durch die heftige Aufwühlung tiefere, unterhalb des zu bearbeitenden Stoffes liegende Schichten der Einbildungskraft in Bewegung gesetzt werden und ihre Gebilde zwischen die oberen drängen. Sie können so gewalttätig werden, dass sie das Strömen der ersten hindern, indem sie sich vor diese schieben. Es bleibt nichts übrig, als schnell auf andere Zettel ihr Ungestüm abladen und zusehen, wie man sich wieder auf den ersten Weg zurückfindet. Auf diese Weise kann aber auch das Chaos Herr werden und alle Gestaltung verschlingen, wodurch mir unzählige Entwürfe in der Hand zerbrochen sind: die andrängenden Rivalen hatten sie nicht geduldet. Durch diese Vorgänge ist die Überzeugung von der Präexistenz der Kunstwerke in mir geweckt worden, die ich in jüngeren Jahren verschiedentlich ausgesprochen habe: