Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Achtes Kapitel – Unser Thole
Jetzt schiebt sich ein holdseliges Bild vor den dunklen Hintergrund meiner Erinnerungen. Ein neues Leben ist in der Familie für das erloschene aufgeblüht. Ein entzückender kleiner Junge mit Goldhärchen, der zu Besuch gekommen ist, hat sich’s auf meinem Schoße bequem gemacht und kaut an einer Kastanie (wir sind im Spätherbst 1883 und wohnen noch am Viale Margherita). Als er sie genügend durchgekaut und durchgespeichelt hat, nimmt er sie aus dem Mund und will sie freundlich in den meinigen stecken. Es ist unser kleiner Thole, Erwins Söhnchen, später unter dem Namen Otto Orlando Kurz als Schöpfer bedeutender Kirchen- und Profanbauten berühmt geworden. (Den zweiten Namen Orlando hatte ihm seine Großmutter im Hinblick auf meines Vaters Übersetzung des Orlando furioso hinzugegeben.) Ich nenne ihn hier mit seinem Kindernamen, wie er lebenslang im Familien- und Freundeskreis genannt wurde, da ich nur von seiner menschlichen Erscheinung erzählen will; von dem genialen Baumeister müssen die Fachgenossen sprechen. – Nach unserem Umzug in die Via delle Porte nuove, als seine Eltern mit uns das neue Haus teilten, wurde er mein täglicher beglückender Spielkamerad, dem ich meine »Tantenlieder« widmete. Mehr als alle Kinder, die ich jemals kannte, war er »Kind« in des Wortes unwiderstehlichster Bedeutung. Unendliche Zeit hat er mir abgeschmeichelt, unzählige Male mein Tun gestört, er brach mitten herein in meine heiligsten Arbeitsstunden; unmöglich, das Kerlchen abzuweisen, wenn es einen Schurz voll Spielsachen brachte und je und je ein zerbrochenes Stück davon großmütig mir schenkte. Jedes Wort und jede Bewegung war Liebreiz, der ebenso aus der liebenswürdigen Gemütsart wie aus der Anmut der beweglichen Gliederchen floss. Eines Morgens kam er splitternackt hereingesprungen und sagte strahlend vor Freude, indem er sein wohlgebautes Körperchen vor mir hin und her drehte: Sieh her, das alles hat mein lieber Papa gemacht! Er glaubte, sein Vater habe ihn ebenso wie seine anderen Werke auf der Drehscheibe modelliert. Köstlich war er anzusehen, wenn er im blauen Kittelchen mit über der Stirn geschnittenen Haaren durch den Garten lief, mächtig mit dem großen Strohfächer wedelnd, der in der Küche zum Feueranmachen diente und den er jeweils der Köchin vom Herde stahl. Wenn ich durch den Garten ging mit dem Schleppkleid, das eine närrische Mode auch für den Tag beliebte, so sprang er dienstfertig herzu, hängte die Schleppe auf den Arm und spazierte wie ein zierlicher kleiner Page hinter mir her, obgleich er nie von einem solchen gehört noch einen abgebildet gesehen hatte, rein aus Wohlwollen für das Kleid, damit es nicht Schaden nähme. So anstellig er sich in allem Körperlichen entwickelte, so schwer fiel es ihm aber, sich sprachlich auszudrücken. Zuerst wollte er wie alle deutschen Kinder in Italien nur italienisch sprechen, doch auch in dieser, der Zunge so entgegenkommenden Sprache brachte er es über den Besitz weniger Hauptwörter, womit er seinen kindlichen Bedarf bestritt, lange nicht hinaus. Dem Verbum mit seiner schlangenhaften Wendigkeit ging er aus dem Wege. Später kam erst das Deutsche daran, aber die Muttersprache machte seiner Zunge noch mehr zu schaffen. Das Kind galt deshalb im Hause für unbegabt, besonders sein Zio (Onkel) Edgar, der gewohnt war, alle Begabung in der Familie zuerst sich auf sprachlich-poetischem Gebiet äußern zu sehen, glaubte diesem kleinen Neffen wenig Glanz für die Zukunft prophezeien zu dürfen. Ich wusste auch nicht, was von den Anlagen meines Lieblings denken, wenn ich sah, dass es der Nonna (Großmutter) nie gelang, ihm den Trojanischen Krieg, mit dem sie ihre sämtlichen Kinder entzückt hatte, auch nur zu Ende zu erzählen und dass ich selber seine Aufmerksamkeit ebensowenig durch ein Grimmsches Märchen zu fesseln vermochte. Seine Augen gingen währenddessen rundum spazieren und blieben an allen Gegenständen hängen, nicht mit der Gedankenlosigkeit des unbegabten sondern mit der Unachtsamkeit eines anderweitig beschäftigten Kindes. Erst als er zu zeichnen anfing, erkannte man, wie genau der Knabe die sichtbaren Dinge in sich aufgenommen hatte und wie bei ihm alle Wahrnehmung durch das Auge ging; hatte er doch schon als Anderthalbjähriger einmal vor einem Waldeingang seine Großmutter, als sie ihn einen falschen Weg tragen wollte, durch Schreien und Strampeln auf den Irrtum aufmerksam gemacht. Beim Größerwerden gab er sich am liebsten mit Zeichnen und Modellieren von Rittern zu Pferde ab und stolzierte dann auch selbst als Ritter durch den Garten, bis einmal die Ritterschaft mit ihm durchging, dass er wie ein richtiger kleiner Orlando furioso mit seinem hölzernen Schlachtschwert in unserem herrlichen Lilienbeet wütete und eines der blühenden Häupter ums andere niederlegte, wonach er stolz vor seine Mutter trat: Ich habe gekämpft und habe sie alle erschlagen. Ein Tag der Trauer in den Annalen des Hauses. Als er endlich sprechen lernte, deutsch und italienisch, gelangen seiner Unschuld wahrhaft dämonische Einfälle, wie sie ein abgefeimter Kobold gerne auf ahnungslose Kinderlippen legt. So einmal gegen den König Karl von Württemberg, als dieser den Winter mit seinem Hofstaat in Florenz verbrachte und unseres Tholes warmer Gönner und Spielkamerad geworden war. Der Knabe bedrängte ihn immerzu, dass er ihm seine Krone zeige, und eines Tages fragte er ihn mit allem Schmelz seines Schmeichelstimmchens: Bist du der Erlkönig oder bist du der König von das Kartenspiel? – zwei Fragen, wie sie unter den obwaltenden Umständen nicht anzüglicher gestellt werden konnten. – Dieser wohlgesinnte, um seiner Weltfremdheit willen vielfach verkannte Monarch war immer glücklich, wenn er Mensch mit Menschen sein konnte. Als er den Kleinen auf der Straße zum ersten Male sah, ließ er den Wagen halten und stieg selber aus, um ihn zu begrüßen. Siehst du, sagte er ihm, wenn du ein Prinz wärest, so würde ich sitzenbleiben, aber vor dem Enkel von Hermann Kurz steigt der König aus dem Wagen. Thole ließ sich solchen Vorzug recht gern gefallen, und als ihm sein Rechenlehrer befahl, ihn mit Sie anzureden, antwortete der Kleine unbedenklich, wenn er zum König Du sagen dürfe, werde er zu ihm nicht Sie sagen. Seine Eltern sagten von ihm damals, er habe das »bordierte Hütlein« seines Ururahns auf, jenes Reutlinger Senators mit dem spanischen Leibfluch, der so viel auf seine Würde hielt, dass er einmal einem Gänserich, der es wagte ihn unter diesem Abzeichen anzuschnattern, mit seinem Ehrendegen den Kopf abhieb. Es hieß von diesem bordierten Hütlein, dass es durch alle Folgegeschlechter immer bei irgendeinem Träger des alten Namens wieder habe zum Vorschein kommen müssen. In der jüngsten