Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola страница 186
Überrascht blickte er auf die zu beiden Seiten der Straße sich erhebenden riesigen Pavillons, deren übereinander geschichtete Dächer zu wachsen, sich auszudehnen, in der Tiefe einer Wolke von zerstäubenden Lichtern sich zu verlieren schienen. In seinem verschwommenen Denken glaubte er eine Reihe von ungeheuren, regelmäßigen, kristalleichten Palästen vor sich zu haben, an deren Stirnseiten die Lichtstreifen der erleuchteten Fenster in endloser Reihe sich hinziehen. Diese schmalen, gelben Streifen zwischen den feinen Kanten der Pfeiler bildeten Lichtleitern, die zu den dunkelen Linien der ersten Dächer hinaufstiegen, dann die oberen Dächer erkletterten und so das Gerippe ungeheurer Säle beleuchteten, wo im gelben Gaslichte ein Durcheinander von grauen, verschwimmenden Formen schlummerte. Er wandte den Kopf verdrossen ab, weil er nicht wußte, wo er war, und beunruhigt durch den Anblick dieses ungeheuren, luftigen Baues. Als er die Augen erhob, sah er die beleuchtete Turmuhr der Sankt-Eustach-Kirche samt den grauen Umrissen des Gotteshauses. Er war also im Sankt-Eustach-Viertel.
Mittlerweile war Frau François zurückgekehrt. Sie stritt heftig mit einem Manne, der einen Sack auf der Schulter trug und ihr einen Sou für das Bund Möhren bot.
Ihr seid nicht recht gescheit, Lacaille ... Ihr verkauft den Parisern das Bund für 4–5 Sous ... leugnet nicht! Für zwei Sous lasse ich sie Euch.
Als der Mann weiterging, fügte sie hinzu:
Die Leute glauben, es wächst von selbst ... Er soll sich Möhren suchen für einen Sou das Bund ... der Trunkenbold Lacaille. Sie werden sehen, er kommt wieder.
Diese Worte hatte sie an Florent gerichtet. Dann setzte sie sich zu ihm und fuhr fort:
Wenn Sie schon lange Zeit von Paris fern sind, kennen Sie vielleicht die neuen Hallen nicht? Sie stehen höchstens erst fünf Jahre ... Dieser Pavillon da neben uns ist für die Früchte und Blumen, weiterhin Seefische und geschlachtetes Geflügel, dahinter schwerere Gemüse, Butter, Käse ... Es gibt sechs Pavillons auf dieser Seite; auf der anderen Seite gegenüber sind noch vier für Fleisch, Kaldaunen und lebendes Geflügel. Die Hallen sind sehr groß; aber im Winter ist's verteufelt kalt da drinnen. Man spricht davon, daß noch zwei Pavillons erbaut werden sollen; zu diesem Behufe sollen die Häuser, die die Getreidehalle umgeben, niedergerissen werden. Haben Sie all dies gekannt?
Nein, erwiderte Florent; ich war im Auslande ... Wie heißt die große Straße da vor uns?
Das ist eine neue Straße, die Pont-Neuf-Straße; sie geht von der Seine aus und mündet hier in die Montmartre- und Montorgueil-Straße. Wenn Tag wäre, würden Sie sich sogleich auskennen.
Jetzt erhob sie sich, weil sie eine Frau bemerkte, die ihre Rüben besichtigte.
Ihr seid's, Mutter Chantemesse? sagte sie freundlich.
Florent ließ die Blicke über die Montorgueil-Straße hinschweifen. Hier war's, wo in der Nacht vom 4. Dezember eine Schar von Polizisten ihn ergriffen hatte. Er ging gegen zwei Uhr nachmittags die Montmartre-Promenade hinauf ganz ruhig inmitten einer großen Menge und lächelte über die vielen Soldaten, mit denen die Machthaber des Elysée das Straßenpflaster überschwemmten, um ernst genommen zu werden, als die Soldaten auf die Menge zu schießen begannen und binnen einer Viertelstunde die Straßen säuberten. Gestoßen und zu Boden geworfen, fiel er an der Ecke der Vivienne-Straße nieder; dann wußte er nichts mehr, die Menge stürmte über ihn hinweg in wahnsinniger Furcht vor den Schüssen. Als er nichts mehr hörte, wollte er sich erheben. Eine junge Frau lag auf ihm; sie hatte einen rosa Hut auf dem Kopfe und ihr herabgeglittener Schal enthüllte ein fein gefälteltes Busentuch; zwei Kugeln hatten das Busentuch durchlöchert und waren oberhalb der Brust in den Körper eingedrungen. Als er die junge Frau sachte zur Seite schob, um seine Beine freizubekommen, floß aus den Schußwunden das Blut in zwei dünnen Fäden auf seine Hände. Da erhob er sich mit einem Satz und eilte davon, wahnsinnig vor Schreck, ohne Hut, mit blutfeuchten Händen. Bis zum Abend streifte er kopflos umher und sah immer die junge Frau vor sich, die quer auf seinen Beinen gelegen, mit ihrem bleichen Antlitz, ihren großen, offenen, blauen Augen, ihren schmerzlich verzerrten Lippen, ihrem Erstaunen über den so schnellen Tod an diesem Orte. Er war scheu; obgleich schon dreißig Jahre alt, wagte er es nicht, den Frauen ins Angesicht zu schauen; jenes Antlitz aber blieb für sein ganzes Leben seinem Gedächtnisse und seinem Herzen eingeprägt. Ihm war, als habe er sein eigenes Weib verloren. Am Abend, befand er sich noch völlig erschüttert von den fürchterlichen Szenen des Nachmittags – er wußte selbst nicht, wie es gekommen – in einer Weinstube der Montorgueil- Straße, wo Leute tranken und davon sprachen, Barrikaden errichten zu wollen. Er ging mit ihnen, half ihnen einige Pflastersteine aufreißen und setzte sich, müde von dem Herumlaufen durch die Straßen, auf der Barrikade nieder, indem er sich sagte, er werde sich schlagen, wenn die Soldaten kommen sollten. Aber er hatte nicht einmal ein Taschenmesser bei sich und war noch immer ohne Hut. Gegen elf Uhr schlummerte er ein; im Traume sah er die zwei Löcher des weißen, gefältelten Busentuches, und diese Löcher schauten ihn an wie zwei von Blut und Tränen gerötete Augen. Als er erwachte, hielten ihn vier Polizisten, die ihn mit Püffen traktierten. Die Barrikadenmänner hatten Reißaus genommen. Die Polizisten wurden wütend und wollten ihn erwürgen, als sie das Blut an seinen Händen sahen. Es war das Blut der jungen Frau.
Dieser Erinnerungen voll erhob Florent die Blicke zur Turmuhr der Sankt-Eustach-Kirche. Er sah nicht einmal die Zeiger. Es war bald vier Uhr morgens. In den Hallen herrschte tiefe Ruhe. Frau François stand noch immer bei der Mutter Chantemesse und feilschte über den Preis der Rüben. Florent erinnerte sich, daß er mit knapper Not dem Schicksal entronnen war, an der Mauer der Sankt-Eustach- Kirche erschossen zu werden. Ein Trupp Gendarmen hatte daselbst eben fünf Unglückliche, die auf einer Barrikade in der Grénéta-Straße ergriffen worden, niedergeknallt. Die fünf Leichen lagen auf dem Fußwege, wo Florent jetzt ein Häuflein roter Radieschen liegen sah. Er selbst war dem Erschossenwerden nur entkommen, weil die vier Polizisten nur mit Säbeln bewaffnet waren. Man brachte ihn auf den nächsten Wachposten und ließ ihn da zurück mit einem für den Postenkommandanten bestimmten, mit Bleistift geschriebenen Zettel: »Mit blutbedeckten Händen ergriffen; sehr gefährlich.« Bis zum Morgen wurde er von Posten zu Posten geschleppt, und überallhin begleitete ihn der Zettel. Man hatte ihm Handschellen angelegt und bewachte ihn wie einen Tobsüchtigen. Auf dem Posten in der Leinenstraße wollten betrunkene Soldaten ihn erschießen, als der Befehl kam, daß die Gefangenen nach dem Polizeigebäude zu schaffen seien. Am zweitnächsten Tage befand er sich in einer Kasematte des Fort Bicêtre. Seit jenem Tage litt er Hunger. In der Kasematte hatte er Hunger, und der Hunger verließ ihn nicht mehr. Es waren ihrer etwa hundert in diesem luftlosen Keller eingepfercht, wo sie das wenige Brot verschlangen, das man ihnen zuwarf wie eingeschlossenen Tieren. Ohne Verteidiger und ohne Zeugen vor den Untersuchungsrichter gebracht, wurde er beschuldigt, einem Geheimbunde anzugehören; als er schwor, daß es nicht wahr sei, zog der Untersuchungsrichter aus seinem Aktenbündel den Zettel hervor, auf dem geschrieben stand: »Mit blutbedeckten Händen ergriffen. Sehr gefährlich.« Das genügte. Man verurteilte ihn zur Verbannung. Nach sechs Wochen – es war im Jänner – ward er eines Nachts vom Kerkermeister geweckt