Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

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Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen - Emile Zola

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auf; sie trugen Handschellen und schritten zwischen zwei Reihen Gendarmen mit scharf geladenen Gewehren. Sie kamen über die Austerlitz-Brücke, gingen die Anlagen entlang und trafen endlich auf dem Bahnhof nach Havre ein. Es war in einer lustigen Karnevalsnacht; die Fenster der Restaurants in den Anlagen waren hell erleuchtet. In der Höhe der Vivienne-Straße an der Stelle, wo er noch immer die unbekannte Tote zu sehen glaubte, deren Bild nicht von ihm weichen wollte, sah Florent in einer großen Kalesche maskierte Weiber mit nackten Schultern und lachenden Gesichtern, die verdrossen darüber waren und sehr angeekelt taten, weil sie wegen »der Zuchthäusler, die kein Ende nehmen wollten«, nicht weiter konnten. Von Paris bis Havre bekamen die Gefangenen keinen Bissen Brot, keinen Schluck Wasser; man hatte einfach vergessen, vor der Abfahrt Nahrungsmittel unter sie zu verteilen. Sie aßen erst sechsunddreißig Stunden später, als man sie im Schiffsraum der Fregatte »Canada« eingepfercht hatte.

      Nein, der Hunger hatte ihn nicht mehr verlassen. Er forschte in seinen Erinnerungen und konnte sich keiner Stunde der Sättigung erinnern. Er war eingedörrt, sein Magen hatte sich zusammengezogen, seine Haut klebte an den Knochen. Und er fand Paris wieder, voll, prächtig, von Nahrungsmitteln strotzend in diesem nächtlichen Dunkel; auf einem Lager von Gemüsen kehrte er zurück; durch eine unbekannte Welt von Lebensmitteln fuhr er dahin, deren Gewühl er rings um sich sah und die ihn beunruhigte. Die lustige Karnevalsnacht hatte also volle sieben Jahre gewährt. Er sah die hell erleuchteten Fenster an den Anlagen wieder, die lachenden Frauen, die lüsterne Stadt, die er in jener fernen Jännernacht verlassen. Es schien ihm, als sei all dies größer geworden und habe sich entwickelt in diesen ungeheueren Hallen, deren kolossalen, noch von den unverdauten gestrigen Genüssen schweren Atemzug er zu verspüren begann.

      Die Mutter Chantemesse hatte sich endlich entschlossen, zwölf Bunde Möhren zu kaufen. Sie hielt sie in ihrer Schürze auf ihrem Bauche, was ihre breite Gestalt noch runder erscheinen ließ; so stand sie noch eine Weile und plauderte mit ihrer schläfrigen Stimme. Als sie fort war, stellte sich Mutter François zu Florent und sagte:

      Die arme Mutter Chantemesse! ... Sie ist mindestens 72 Jahre alt. Ich war noch ein kleines Mädchen, als sie schon meinem Vater Rüben abkaufte. Sie hat keine Verwandten, nichts als eine leichtfertige Dirne, die sie Gott weiß wo aufgelesen und die ihr nur Kummer und Galle macht ... So lebt sie fort, verkauft ihre Gemüse im kleinen und macht sich dabei täglich ihre vierzig Sous. Ich könnte es in diesem verteufelten Paris nicht aushalten, wenn ich den ganzen Tag auf dem Bürgersteig hocken müßte. Wenn man doch wenigstens Verwandte hätte! ...

      Da Florent noch immer schwieg, fragte sie ihn:

      Haben Sie Familie in Paris? Er schien nicht zu hören. Sein Mißtrauen kehrte wieder. Er hatte den Kopf voll Polizeigeschichten, Sicherheitsagenten, die an allen Straßenecken lauern, Weibern, die Geheimnisse verkaufen, die sie armen Teufeln entrissen haben. Sie saß ganz nahe bei ihm und schien ihm ganz ehrbar zu sein mit ihrem großen, ruhigen Gesichte, das über der Stirne ein schwarz und gelb gestreiftes Seidentuch einrahmte. Sie war etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein wenig stark, schön in ihrer Frische und ihrem fast männlichen Wesen, das durch schwarze, überaus sanfte und freundliche Augen gemildert ward. Sie war sicherlich neugierig, aber von einer durchaus gutmütigen Neugierde.

      Ohne durch das Stillschweigen Florents sich gekränkt zu fühlen fuhr sie fort:

      Ich hatte in Paris einen Neffen; aber er war ein Nichtsnutz und ging schließlich zum Militär ... Kurz: es ist schön, wenn man weiß, wo man abzusteigen hat. Ihre Verwandten werden vielleicht überrascht sein, Sie zu sehen. Es ist eine Freude heimzukehren, nicht wahr?

      Während sie so sprach, ließ sie ihn nicht aus den Augen, ohne Zweifel gerührt von seiner großen Magerkeit. Sie merkte, daß in dem kläglichen schwarzen Rocke ein »Herr« stecke und fand nicht den Mut, ihm ein Silberstück in die Hand zu drücken.

      Endlich sagte sie in schüchternem Tone:

      Wenn Sie indes etwas benötigen sollten ...

      Doch er lehnte mit unruhigem Stolze ab; er sagte, er habe alles, was er brauche, und wisse, wohin er gehe. Sie schien darob sehr zufrieden und wiederholte mehrere Male, wie um sich selbst über sein Schicksal zu beruhigen:

      Ja, dann haben Sie nur den Tagesanbruch abzuwarten.

      Eine große Glocke über dem Kopf Florents an der Ecke des Früchtepavillons begann jetzt zu läuten. Die langsamen und regelmäßigen Schläge schienen immer mehr und mehr die auf dem Marktplatze schlummernden Leute zu erwecken. Es kamen noch immer Karren; das Geschrei der Kärrner, das Peitschenknallen, das Rollen der Räder auf dem Pflaster und das Stampfen der Pferde – all der Lärm nahm immer mehr zu. Die Karren kamen nur noch ruckweise vorwärts, hielten sich in der Reihe, dehnten sich weithin außerhalb des Gesichtskreises, verloren sich in einem grauen Halbdunkel, aus dem ein verworrener Lärm hervordrang. Die ganze Pont-Neuf-Straße entlang wurde abgeladen, wobei die Karren mit dem Hinterteil der Gosse zugekehrt, die Pferde eng nebeneinander aufgestellt waren wie auf einem Markte. Florent interessierte sich besonders für einen ungeheuren Kehrichtwagen voll herrlicher Kohlköpfe, den man nur mit vieler Mühe hatte bis zum Fußweg zurückschieben können. Die Ladung überragte einen daneben stehenden großen Laternenpfahl, dessen Lampe ihr volles Licht auf den Haufen breiter Blätter warf, die gleich breiten, abgeschnittenen Stücken grünen, gepreßten Samtes herabhingen. Eine kleine Bäuerin von sechzehn Jahren in Jacke und Haube von blauer Leinwand, die auf dem Karren bis an den Schultern mitten in der Ladung stand, erfaßte einen Kohlkopf nach dem andern und warf sie jemandem zu, der auf dem Fußweg stand und im Dunkel nicht zu sehen war. Von Zeit zu Zeit verschwand die Kleine unter dem riesigen Kohlhaufen, dann tauchte ihr rosiges Näschen mitten in dem dichten Grünkram wieder auf; sie lachte, und die Kohlköpfe nahmen ihren Flug zwischen der Gaslaterne und Florent wieder auf. Dieser zählte sie unwillkürlich und war schier verdrossen, als der Wagen leer war.

      Auf dem Abladeplatz dehnten sich jetzt die aufgeschichteten Haufen bis zum Fahrwege aus. Zwischen je zwei Haufen ließen die Krautgärtner einen schmalen Weg, damit man verkehren könne. Der Fußweg war in seiner ganzen Länge mit den dunklen Gemüsehügeln bedeckt. In dem grellen und schwankenden Lichte der Laternen sah man noch nichts als die fleischige Fülle eines Haufens Artischocken, das zarte Grün der Salate, die Korallenfarbe der roten Rüben, die Elfenbeinfarbe der weißen Rüben und diese Blitze voll satter Farben glitten mit dem Lichte der Laternen die Haufen entlang. Auf dem Fußweg wurde es lebendig; eine große Menschenmenge war erwacht und bewegte sich unter lebhaften Gesprächen und Zurufen zwischen den Warenhaufen. Eine starke Stimme rief in der Ferne: »He, die Salate heran!« Man hatte das Gittertor des Pavillons für schwere Gemüse geöffnet. Die Wiederverkäuferinnen dieses Pavillons in weißen Hauben mit einem Halstuch über dem schwarzen Leibchen, die Röcke mit Nadeln aufgesteckt, um sie nicht zu beschmutzen, machten ihren Einkauf für den Tag und füllten damit die zur Erde gestellten großen Butten der Träger. Vom Pavillon bis zum Fahrweg herrschte ein lebhaftes Kommen und Gehen der Butten inmitten der aneinander fahrenden Köpfe, der derben Worte, der lärmenden Stimmen, die sich heiser schrieen, indem sie eine Viertelstunde um einen Sou feilschten. Florent war erstaunt, wie die Gemüsegärtnerinnen mit ihren großen Umhängetüchern und ihrer gebräunten Gesichtsfarbe bei dieser geschwätzigen Knauserei ihre Ruhe bewahrten.

      Hinter ihm wurde auf den Quadern der Rambuteau- Straße Obst verkauft. Ganze Reihen niedriger Körbe, mit Leinwand oder Stroh bedeckt, standen da und ein starker Geruch von überreifen Pflaumen verbreitete sich. Eine ruhige, langsame Stimme, die er seit längerer Zeit hörte, ließ ihn den Kopf wenden. Er sah eine reizende, kleine, braune Frau, die am Boden hockend feilschte.

      Sprich, Marcel, gibst du ihn für hundert Sous?

       Der Mann, der in seinen Mantel gehüllt dastand, antwortete nicht. Nach Verlauf von fünf Minuten begann die Frau wieder:

      Sag, Marcel: Fünf Franken für diesen Korb und vier für den andern

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