Gesammelte Werke von Charles Darwin (Mit Illustrationen). Чарльз Дарвин
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Doch kehren wir zu unserem zunächst vorliegenden Gegenstand zurück. Obgleich manche Instincte kräftiger sind als andere und damit zu entsprechenden Handlungen führen, so kann doch nicht behauptet werden, daß die socialen Instincte beim Menschen (mit Einschluß der Ruhmliebe und der Furcht vor Tadel) gewöhnlich stärker sind oder durch langandauernde Gewohnheit stärker geworden sind, als z. B. die Instincte der Selbsterhaltung, des Hungers, der Lust, der Rache u. s. w. Warum bereut der Mensch, – selbst wenn er sich Mühe giebt, jedes solche Gefühl der Reue zu verbannen –, daß er mehr dem einen natürlichen Impuls gefolgt ist als dem andern, und ferner, warum fühlt er, daß er sein Betragen bereuen sollte? In dieser Beziehung weicht der Mensch völlig von den niederen Thieren ab, doch können wir, wie ich glaube, die Ursache dieser Verschiedenheit mit einem ziemlichen Grade von Deutlichkeit erkennen.
In Folge der Lebendigkeit seiner geistigen Fähigkeiten kann der Mensch es nicht vermeiden zu reflectieren: vergangene Eindrücke und Bilder durchziehen unaufhörlich mit Deutlichkeit seine Seele. Bei denjenigen Thieren nun, welche beständig in Massen vereinigt leben, sind die socialen Instincte fortwährend gegenwärtig und ausdauernd. Derartige Thiere sind immer bereit, das Warnungssignal auszustoßen, die Genossenschaft zu vertheidigen und ihren Genossen in Übereinstimmung mit ihren Gewohnheiten zu helfen; sie fühlen zu allen Zeiten, ohne den Antrieb einer speciellen Leidenschaft oder Begierde, einen gewissen Grad von Liebe und Sympathie für sie; sie sind unglücklich, wenn sie lange von ihnen getrennt sind, und wieder in ihrer Gesellschaft immer glücklich. Dasselbe gilt auch für uns selbst. Selbst wenn wir ganz allein sind, wie oft denken wir mit Vergnügen oder mit Kummer daran, was Andere von uns denken – an deren vermeintliche Billigung oder Mißbilligung; und dies Alles ist Folge der Sympathie, eines Fundamentalelements der socialen Instincte. Ein Mensch, welcher keine Spur derartiger Instincte besäße, würde ein unnatürliches Monstrum sein. Auf der anderen Seite ist die Begierde, den Hunger oder irgend eine Leidenschaft, wie die der Rache, zu befriedigen, ihrer Natur nach temporär und kann zeitweise vollständig befriedigt werden. Es ist auch nicht leicht, vielleicht kaum möglich, mit vollständiger Lebendigkeit z. B. das Gefühl des Hungers sich zurückzurufen und, wie oft bemerkt worden ist, nicht einmal das Gefühl irgendwelchen Leidens. Der Instinct der Selbsterhaltuug wird nicht gefühlt, ausgenommen in Gegenwart einer drohenden Gefahr, und mancher Feigling hat sich für tapfer gehalten, bis er seinem Feinde Auge in Auge gegenüber gestanden hat. Der Wunsch nach dem Eigenthum eines anderen Menschen ist vielleicht ein so beständiger wie irgend einer, der angeführt werden kann; aber selbst in diesem Falle ist das befriedigende Gefühl wirklichen Besitzes meist ein schwächeres Gefühl als der Wunsch darnach. Schon mancher Dieb hat sich, wenn er kein gewohnheitsmäßiger war, nach glücklichem Erfolg gewundert, warum er Dies oder Jenes gestohlen hat.261
Der Mensch kann es nicht vermeiden, daß alte Eindrücke beständig wieder durch seine Seele ziehen; hiedurch wird er gezwungen, die Eindrücke, z. B. vergangenen Hungers oder befriedigter Rache oder auf Kosten anderer Menschen vermiedener Gefahr, mit dem fast stets gegenwärtigen Instincte der Sympathie und mit seiner früheren Kenntnis von dem, was Andere für preiswürdig oder für tadelnswerth halten, zu vergleichen. Diese Kenntnis kann er nicht aus seiner Seele verbannen und sie wird in Folge der instinctiven Sympathie als von großer Bedeutung angesehen. Er wird dann das Gefühl haben, daß er irre geleitet worden sei, als er einem auftauchenden Instincte oder einer Gewohnheit nachgegeben habe, und dies verursacht bei allen Thieren das Gefühl des Ünbefriedigtseins oder selbst des Elends.
Der vorhin mitgetheilte Fall der Schwalbe bietet eine Erläuterung, wenn auch in umgekehrter Weise, eines nur zeitweise, aber doch für diese Zeit stark vorherrschenden Instincts dar, welcher einen andern, welcher gewöhnlich alle übrigen beherrscht, überwindet. Zu der betreffenden Zeit des Jahres scheinen diese Vögel den ganzen Tag lang nur die eine Begierde zu kennen, zu wandern. Ihre Gewohnheiten ändern sich, sie werden rastlos, lärmend und versammeln sich in Haufen. So lange der mütterliche Vogel seine Nestlinge ernährt oder über ihnen sitzt, ist der mütterliche Instinct wahrscheinlich stärker als der Wanderinstinct; aber derjenige, welcher der andauernde ist, erhält den Sieg, und zuletzt fliegt der Vogel in einem Augenblick, wo seine Jungen nicht in Sicht sind, auf und davon und verläßt sie. Ist er am Ende seiner langen Reise und hat der Wanderinstinct zu wirken aufgehört, welch' schmerzliche Gewissensbisse würde der Vogel fühlen, wenn er, mit großer geistiger Lebendigkeit ausgerüstet, sich dem nicht entziehen könnte, daß das Bild seiner Jungen, welche in dem rauhen Norden vor Kälte und Hunger umkommen mußten, beständig durch seine Seele zöge.
In dem Momente der Handlung wird der Mensch ohne Zweifel geneigt sein, dem stärkeren Antriebe zu folgen, und obschon ihn dies gelegentlich zu den edelsten Thaten führen kann, so wird es doch bei weitem häufiger ihn dazu bringen, seine eigenen Begierden auf Kosten anderer Menschen zu befriedigen. Wenn aber nach deren Befriedigung die vergangenen und schwächeren Eindrücke mit den immer vorhandenen socialen Instincten verglichen werden, und bei seiner hohen Achtung vor der guten Meinung seiner Mitmenschen, wird sicherlich Reue eintreten; der Mensch wird dann Gewissenbisse, Reue, Bedauern oder Scham empfinden: doch bezieht sich das letztere Gefühl fast ausschließlich auf das Urtheil Anderer. Er wird in Folge dessen sich entschließen, mit mehr oder weniger Kraft, in Zukunft anders zu handeln. Dies ist das Gewissen; denn das Gewissen schaut rückwärts und dient uns als Führer für die Zukunft.
Die Natur und Stärke der Empfindungen, welche wir Bedauern, Scham, Reue oder Gewissensbisse nennen, hängen dem Anschein nach nicht allein von der Stärke des verletzten Instincts, sondern auch zum Theil von der Stärke der Versuchung und häufig noch mehr von dem Urtheil unserer Mitmenschen ab. In wie weit jeder Mensch die Anerkennung Anderer würdigt, hängt von der Stärke seines angeborenen oder erlangten