Gesammelte Werke von Charles Darwin (Mit Illustrationen). Чарльз Дарвин
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Der Ausdruck der Wünsche und des Urtheils der Glieder einer und derselben Gemeinschaft, anfangs mündlich, später auch durch Schriftsprache, bildet entweder die einzige Richtschnur unseres Benehmens, oder kräftigt in hohem Maße die socialen Instincte; doch haben derartige Meinungen zuweilen eine direct in Opposition zu diesen Instincten stehende Tendenz. Diese letztere Thatsache wird durch das Gesetz der Ehre sehr wohl erläutert, d. h. das Gesetz der Meinung von Unseresgleichen und nicht aller unserer Landsleute. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz, – selbst wenn anerkannt werden muß, daß der Verstoß in strenger Übereinstimmung mit der wirklichen Moral ist –, hat manchem Mann mehr Gewissenbisse verursacht, als ein wirkliches Verbrechen. Wir erkennen denselben Einfluß in dem brennenden Gefühl der Scham, welches die meisten von uns selbst nach Verlauf von Jahren gefühlt haben, wenn sie irgend einen zufälligen Verstoß gegen eine unbedeutende, wenn nur einmal feststehende Regel der Etikette sich in's Gedächtnis zurückrufen. Das Urtheil der ganzen Gemeinschaft wird durch eine gewisse unbestimmte Erfahrung von Dem bestimmt werden, was auf die Länge der Zeit für alle Mitglieder das Beste ist. Dies Urtheil wird aber nicht selten in Folge von Ungewißheit oder von einem schwachen Vermögen des Nachdenkens irren. Daher sind die merkwürdigsten Gebräuche und Formen des Aberglaubens im vollen Gegensatz zur wahren Wohlfahrt und Glückseligkeit der Menschheit durch die ganze Welt so übermächtig geworden. Wir sehen dies in dem Entsetzen, welches ein Hindu fühlt, der seine Kaste verläßt, und in unzähligen anderen Beispielen. Es dürfte schwer sein, zwischen den Gewissensbissen, die ein Hindu fühlt, der der Versuchung nachgegeben hat, unreine Nahrung zu genießen, und denjenigen zu unterscheiden, welche nach dem Begehen eines Diebstahls gefühlt werden; die ersteren dürften aber wahrscheinlich die härteren sein.
Auf welche Weise so viele absurde Gesetze des Benehmens, ebenso wie so viele absurde religiöse Glaubensansichten entstanden sind, wissen wir nicht, ebensowenig, woher es kommt, daß sie in allen Theilen der Welt sich dem menschlichen Geist so tief eingeprägt haben. Es ist aber der Bemerkung werth, daß ein beständig während der früheren Lebensjahre eingeprägter Glaube und zwar so lange das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, fast die Natur eines Instincts anzunehmen scheint: und das eigentliche Wesen eines Instincts liegt ja darin, daß man ihm unabhängig vom Nachdenken folgt. Ebensowenig können wir sagen, warum gewisse bewundernswerthe Tugenden, wie die Wahrheitsliebe, von einigen wilden Stämmen viel höher anerkannt werden als von andern,277 und ferner warum ähnliche Verschiedenheiten selbst unter civilisierten Nationen bestehen. Da wir wissen, wie stark viele fremdartige Gebräuche und Aberglauben fixiert worden sind, brauchen wir uns darüber nicht zu verwundern, daß die auf das Individuum Bezug habenden Tugenden uns jetzt in einem Grade natürlich erscheinen (da sie in der That auf Nachdenken beruhen), daß man sie für eingeboren halten möchte, trotzdem sie vom Menschen in seinem frühesten Zustand nicht geschätzt wurden.
Trotz vieler Zweifelsquellen kann der Mensch meistens, und zwar leicht, zwischen den höheren und niederen moralischen Regeln unterscheiden. Die höheren gründen sich auf die socialen Instincte und beziehen sich auf die Wohlfahrt Anderer; sie beruhen auf der Billigung unserer Mitmenschen und auf Nachdenken. Die niedern Regeln, trotzdem manche von ihnen, wenn sie Selbstaufopferung mit im Gefolge haben, kaum den Namen niederer verdienen, beziehen sich hauptsächlich auf das eigene Selbst und verdanken ihren Ursprung der öffentlichen Meinung, sobald diese durch Erfahrung und Cultur gereift ist; denn sie werden von rohen Stämmen nicht befolgt.
Wenn der Mensch in der Cultur fortschreitet und kleinere Stämme zu größeren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, daß es seine socialen Instincte und Sympathien auf alle Glieder der Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathie auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der That, wenn gewisse Menschen durch große Verschiedenheiten im Äußern oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert es, wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d. h. Humanität gegen die niederen Thiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein. Wilde besitzen dieses Gefühl, wie es scheint, nicht, mit Ausnahme der Humanität gegen ihre Schoßthiere. Wie wenig die alten Römer dasselbe kannten, zeigt sich in ihren abstoßenden Gladiatorenkämpfen. Die bloße Idee der Humanität war, soviel ich beobachten konnte, den meisten Gauchos der Pampas neu. Diese Tugend, eine der edelsten, welche dem Menschen eigen sind, scheint als natürliche Folge des Umstands zu entstehen, daß unsere Sympathien immer zarter und weiter ausgedehnt werden, bis sie endlich auf alle fühlenden Wesen sich erstrecken. Sobald diese Tugend von einigen wenigen Menschen geehrt und ausgeübt wird, verbreitet sie sich durch Unterricht und Beispiele auf die Jugend und wird auch eventuell in der öffentlichen Meinung eingebürgert.
Die höchste mögliche Stufe in der moralischen Cultur, zu der wir gelangen können, ist die, wenn wir erkennen, daß wir unsere Gedanken controlieren sollen und »selbst in unsern innersten Gedanken nicht noch einmal die Sünden nachdenken dürfen, welche uns die Vergangenheit so angenehm machten«.278 Was nur immer irgend eine schlechte Handlung der Seele vertraut macht, macht auch ihre Ausführung um so vieles leichter. So hat Marc Aurel schon vor langer Zeit gesagt: »so wie deine gewöhnlichen Gedanken sind, wird auch der Charakter deiner Seele sein, denn die Seele ist von den Gedanken gefärbt«.279
Unser großer Philosoph Herbert Spencer hat vor Kurzem seine Ansichten über das moralische Gefühl ausgesprochen. Er sagt:280 »ich glaube, daß die Erfahrungen der Nützlichkeit, welche durch alle vergangenen Generationen in der menschlichen Rasse organisiert und befestigt worden sind, entsprechende Modificationen hervorgebracht haben, welche in Folge fortgesetzter Überlieferung und Anhäufung zu gewissen Fähigkeiten moralischer Intuition geworden sind, – gewisse Erregungen entsprechen dem rechten und unrechten Betragen, welche keine zu Tage tretende Grundlage in den individuellen Erfahrungen der Nützlichkeit haben.« Wie mir scheint, giebt es nicht die geringste in der Sache selbst liegende Unwahrscheinlichkeit für die Annahme, daß tugendhafte Neigungen mehr oder weniger stark vererbt werden; denn – um hier nicht die verschiedenen Dispositionen und Gewohnheiten zu erwähnen, welche von vielen unserer domesticierten Thiere ihren Nachkommen überliefert werden, – ich habe von authentischen Fällen gehört, in welchen eine Sucht zu stehlen und eine Neigung zu lügen durch Familien selbst höherer Stände hindurchging; und da das Stehlen ein so seltenes Verbrechen in den wohlhabenden Classen ist, so können wir die in zwei oder drei Mitgliedern derselben Familie auftretende Neigung nicht durch eine zufällige Coincidenz erklären. Werden schlechte Neigungen überliefert, so ist es wahrscheinlich, daß auch gute in gleicher Weise vererbt werden. Daß der Zustand des Körpers mit seiner Einwirkung auf das Gehirn einen bedeutenden Einfluß auf die moralischen Neigungen hat, ist den meisten von denen bekannt, welche an chronischer Verdauungsstörung oder an der Leber gelitten haben. Dieselbe Thatsache zeigt sich auch darin, »daß die Verirrung oder Zerstörung des moralischen Gefühls oft eines der ersten Symptome beginnender geistiger Störung ist«