äußerst bedeutungsvoll, wennschon nicht nothwendig: die Ehrfurcht oder Furcht vor Gott oder den Geistern, an die jeder Mensch glaubt; dies gilt vorzüglich für die Fälle, wo Gewissensbisse empfunden werden. Mehrere Kritiker haben mir entgegengehalten, daß, wenn auch ein geringer Grad von Bedauern oder Reue durch die in diesem Capitel vertheidigte Ansicht erklärt werden könne, es doch unmöglich sei, in dieser Weise das seelenerschütternde Gefühl der Gewissensbisse zu erklären. Ich kann diesem Einwurf nur wenig Gewicht beilegen. Meine Kritiker definieren nicht, was sie unter Gewissensbissen verstehen, und ich kann keine Definition finden, die mehr enthielte als ein überwältigendes Gefühl der Reue. Gewissensbisse scheinen in demselben Verhältnis zur Reue zu stehen, wie Wuth zu Ärger, oder Todesangst zu Schmerz. Es ist durchaus nicht befremdend, daß ein so starker und so allgemein bewunderter Instinct wie Mutterliebe, wenn ihm nicht gehorcht wird, zum Gefühl des tiefsten Elends führt, sobald der Eindruck der vorübergegangenen Veranlassung zum Nichtgehorchen abgeschwächt ist. Selbst wenn eine Handlung keinem speciellen Instincte entgegengesetzt ist: einfach zu wissen, daß unsere Freunde und Gleichstehenden uns verachten, ist hinreichend, uns sehr unglücklich zu machen. Wer kann daran zweifeln, daß die Verweigerung eines Duells aus Furcht manchem Manne die allerbitterste Scham verursacht hat? So mancher Hindu ist, wie man sagt, bis auf den Grund seiner Seele erschüttert worden, weil er an unreiner Nahrung theilgenommen hat. Das folgende ist ein weiterer Fall von Gewissensbissen, wie man es meiner Meinung nach wohl nennen muß. Dr. Landor fungierte als Magistratsperson in West-Australien und erzählte,262 daß ein Eingeborener auf seiner Farm nach dem Verluste einer seiner Frauen in Folge von Krankheit zu ihm gekommen sei und gesagt habe, »daß er im Begriffe sei, zu einem entfernten Stamme zu gehen, um zur Befriedigung seines Gefühls von Pflicht gegen seine Frau ein anderes Weib mit dem Speere zu tödten. Ich sagte ihm, daß, wenn er es thäte, ich ihn zeitlebens in's Gefängnis bringen würde. Er blieb ein paar Monate auf der Farm, wurde aber außerordentlich mager und klagte, daß er nicht ruhen und nicht essen könne, daß der Geist seiner Frau ihn heimsuche, weil er nicht ein anderes Leben für ihres genommen habe. Ich blieb unerbittlich und versicherte ihm, daß ihn nichts retten würde, wenn er es thäte«. Nichtsdestoweniger verschwand der Mann für länger als ein Jahr, und kehrte dann in gehobener Stimmung zurück. Seine andere Frau erzählte dann Dr. Landor, daß ihr Mann einem zu einem entfernten Stamme gehörenden Weibe das Leben genommen habe; es war aber unmöglich, legale Zeugnisse für die Handlung beizubringen. Die Verletzung einer vom Stamme heilig gehaltenen Regel läßt hiernach, wie es scheint, die tiefsten Gefühle entstehen, – und zwar völlig getrennt von den socialen Instincten, ausgenommen insofern die Regel auf das Urtheil der Genossenschaft gegründet ist. Wie so viele fremdartige Formen des Aberglaubens auf der ganzen Erde entstanden sind, wissen wir nicht; auch können wir nicht angeben, woher es kommt, daß einige wirkliche und schwere Verbrechen, wie z. B. Incest, selbst von den niedersten Wilden verabscheut werden (doch ist dies allerdings nicht ganz allgemein). Es ist selbst zweifelhaft, ob bei manchen Wilden Incest mit größerem Abscheu betrachtet würde, als die Heirath eines Mannes mit einer Frau, die denselben Namen führt, auch wenn es keine Verwandte ist. »Dies Gesetz zu verletzen ist ein Verbrechen, welches die Australier in höchstem Maße verabscheuen, worin sie vollständig mit gewissen Stämmen in Nord-Amerika übereinstimmen. Wenn in beiden Theilen der Erde die Frage aufgestellt wird: ist es schlechter, ein Mädchen eines fremden Stammes zu tödten, oder ein Mädchen des eigenen Stammes zu heirathen, so würde eine Antwort ohne Zögern gegeben werden, die unserer Beantwortungsweise genau entgegengesetzt ist«.263 Den neuerdings von einigen Schriftstellern betonten Glauben, daß das Verabscheuen des Incestes Folge davon ist, daß wir ein specielles von Gott eingepflanztes Gewissen besitzen, dürften wir daher zu verwerfen haben. Im Ganzen ist es wohl verständlich, wie ein von einem so mächtigen Gefühle wie Gewissensbissen angetriebener Mensch (auch wenn dasselbe so entstanden ist, wie es oben erklärt wurde) dazu gebracht werden kann in einer Art und Weise zu handeln, von welcher ihm zu glauben gelehrt worden ist, daß sie als Vergeltung dient, z. B. wenn er sich selbst der Gerechtigkeit überliefert.
Von seinem Gewissen beeinflußt wird der Mensch durch lange Gewohnheit eine so vollkommene Selbstbeherrschung erlangen, daß seine Begierden und Leidenschaften zuletzt fast augenblicklich und ohne Kampf seinen socialen Sympathien und Instincten, mit Einschluß seines Gefühls für das Urtheil seiner Mitmenschen, nachgeben. Der noch immer hungrige oder noch immer rachsüchtige Mensch wird nicht daran denken, Nahrung zu stehlen oder seine Rache auszuführen. Es ist möglich, oder wie wir später sehen werden, selbst wahrscheinlich, daß die Gewohnheit der Selbstbeherrschung wie andre Gewohnheiten vererbt wird. So kommt der Mensch selbst dazu, in Folge erlangter und vielleicht ererbter Gewohnheit zu fühlen, daß es das Beste für ihn ist, seinen dauernden Impulsen zu folgen. Das gebieterische Wort » soll« scheint nur das Bewußtsein von der Existenz einer Regel des Betragens zu enthalten, wie immer diese auch entstanden sein mag. Früher muß das Drängen, daß ein beleidigter Mann ein Duell auskämpfen solle, oft heftig gewesen sein. Wir sagen selbst, daß ein Vorstehehund stehen soll und ein Apportierhund apportieren. Thun sie es nicht, so erfüllen sie ihre Pflicht nicht und handeln unrecht.
Wenn irgend eine Begierde oder ein Instinct, welcher zu einer dem Besten Anderer entgegenstehenden Handlung führt, einem Menschen, wenn dieser sich ihn vor die Seele ruft, noch immer als ebenso stark oder noch stärker als sein socialer Instinct erscheint, so wird er kein heftiges Bedauern fühlen, ihm gefolgt zu sein; er wird sich aber dessen bewußt sein, daß, wenn sein Betragen seinen Mitmenschen bekannt würde, er von ihnen Mißbilligung erfahren würde, und nur Wenige sind so völlig der Sympathie bar, um nicht Mißbehagen zu empfinden, wenn dies eintritt. Hat er keine solche Sympathie und sind seine Begierden, die ihn zu schlechten Handlungen leiten, zu der Zeit stark und werden sie, vor die Seele zurückgerufen, nicht von den persistenteren socialen Instincten und der Beurtheilung Anderer bekämpft, dann ist er seinem Wesen nach ein schlechter Mensch,264 und das einzige ihn zurückhaltende Motiv ist die Furcht vor der Strafe und die Überzeugung, daß es auf die Dauer für seine eigenen selbstischen Interessen am besten sein würde, mehr das Beste der Andern, als sein eigenes in's Auge zu fassen,
Offenbar kann Jeder mit einem weiten Gewissen seine eigenen Begierden befriedigen, wenn sie nicht mit seinen socialen Instincten sich kreuzen, d. h. mit dem Besten Anderer; aber um völlig vor seinen Vorwürfen sicher zu sein oder wenigstens vor Unbehagen, ist es beinahe nothwendig, die Mißbilligung seiner Mitmenschen, mag sie gerechtfertigt sein oder nicht, zu vermeiden. Auch darf der Mensch nicht die feststehenden Gewohnheiten seines Lebens, besonders wenn dieselben verständige sind, durchbrechen; denn wenn er dies thut, wird er zuverlässig ein Unbefriedigtsein empfinden; auch muß er gleichzeitig den Tadel des einen Gottes oder der Götter vermeiden, an welchen oder an welche er je nach seiner Kenntnis oder nach seinem Aberglauben glauben mag. In diesem Falle tritt aber oft noch die weitere Furcht vor göttlicher Strafe ein.
Fußnote
257Hume bemerkt (An Enquiry concerning the Principles of Moral; edit. 1751, p. 132): »es scheint das Bekenntnis nothwendig zu sein, daß das Glück und Unglück Anderer uns keine völlig indifferenten Schauspiele sind, daß im Gegentheil die Betrachtung des ersteren ... uns eine heimliche Freude befreitet, während das Auftreten des letzteren ... einen melancholischen Schatten über unsere Phantasie breitet«.
259 Ich beziehe mich hier auf den Unterschied zwischen dem, was man materielle, und dem, was man formelle Moralität genannt hat. Ich freue mich, zu sehen, daß Prof. Huxley (Critiques and Adresses, 1873, p. 287) dieselbe Ansicht hat. Mr. Leslie Stephen bemerkt (Essays on Free Thinking and Plain Speaking, 1873, p. 83): »der metaphysische Unterschied zwischen materieller und formeller Moralität ist so irrelevant wie andere derartige Unterschiede«.