Bildwerte. Группа авторов
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Solche außergewöhnlichen cinematischen Räume waren Teil der langanhaltenden Konkurrenz zwischen dem stereoskopischen und dem monokularen Blick und somit des Statuswettstreits um Prestige und diskursive Macht zwischen der Populär- und der Elitekultur in den Künsten des 19. Jahrhunderts. Filmwissenschaftler, und vor allem auf den Kinoapparat spezialisierte Historiker, haben oft übersehen, wie verbreitet, vielfältig und beliebt Stereodias seit Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich waren.33 Es ist erstaunlich, in welchen großen Mengen sie produziert, vertrieben und gesehen wurden: Sie wurden in Schulen eingesetzt, zu Hause mittels tragbarer Stereobetrachter bewundert und als Visitenkarten fürs Geschäft verwendet. Auch in der Öffentlichkeit konnten, zumindest in Europa, dank des weitverbreiteten Kaiser-Panoramas (einer kreisförmigen Betrachtergalerie) bis zu 24 Besucher die gleiche Diashow sehen.34
Eine der bekanntesten und eloquentesten Beschreibungen des Kaiserpanoramas im Berliner Tiergarten stammt von Walter Benjamin. Es findet sowohl in Einbahnstraße als auch in Berliner Kindheit um 1900 Erwähnung:
»Es war ein großer Reiz der Reisebilder, die man im Kaiserpanorama fand, daß gleichviel galt, bei welchem man die Runde anfing. Denn weil die Schauwand mit den Sitzgelegenheiten davor im Kreis verlief, passierte jedes sämtliche Stationen, von denen man durch je ein Fensterpaar in seine schwachgetönte Ferne sah.«35
Seltsamerweise erwähnt Benjamin nicht, dass es sich um stereoskopische Bilder handelte. Dennoch heißt einer der Abschnitte in Einbahnstraße »Stereoskop«. Der Begriff wird hier von Benjamin figurativ verwandt, um Momente der raumzeitlichen Verschiebung in der modernen Stadt zu beschreiben. Dies deutet darauf hin, dass die Praxis fester und unvergessener Teil der damaligen Kultur war, so dass der Apparat selbst als aufschlussreiche Metapher dienen konnte.
Bemerkenswert ist, warum und wie dieses Wissen um die Stereoskopie Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Verbreitung des Kinos unterdrückt wurde, wodurch das Paradigma malerischer Bildproduktion Auftrieb erhielt, die Generierung der Illusion des dreidimensionalen Raums auf 2D-Oberflächen. Zweifellos trug dazu auch das Bedürfnis bei, das Kino respektabel zu machen, indem seine räumlichen Koordinaten dem bürgerlichen Theater und seine gestalterischen Gebräuche der Salonmalerei angepasst wurden.36
Dem gegenüber spielt sicherlich der (nun positiv gewertete) plebejische Aspekt des 3D eine Rolle, warum gerade die anti-bürgerlichen, anti-Kunst Avantgarden, insbesondere der Dadaismus und der Surrealismus, die 3D-Bildgestaltung und ihre Effekte am Leben erhielten und oft weiter ausbauten. Gute Beispiele sind Marcel Duchamps Rotoreliefs, genauso wie sein palindromischer Film Anémic Cinéma (F 1926) oder Small Glass, auch bekannt unter dem Titel »To be Looked at (from the other side of the Glass) with One Eye, Close to, for Almost an Hour« – eine geistreiche Dekonstruktion des monokularen Blicks anhand eines stereoskopischen Okularensembles, dem Duchamp eine zeitliche Dimension hinzufügt.37
Auf ähnliche Weise waren sich die Künstler der sogenannten »Absoluter-Film«-Bewegung, insbesondere Viking Eggeling, Oskar Fischinger und Walter Ruttman, aber auch Man Ray, Francis Picabia und Hans Richter, der visuell-konzeptuellen Möglichkeiten der Simulation von räumlicher Tiefe durch graphische Mittel bewusst.38 Ihre Bemühungen können als Teil der Generalüberholung des Renaissanceparadigmas während der zwanziger Jahre verstanden werden. Sie verdeutlichen den Unwillen der Filmavantgarde, das Kino vollständig den Regeln und der Ideologie der monokularen Zentralperspektive zu unterwerfen.
Ein Zeitsprung in die Sechziger und Siebziger bringt uns zu Andy Warhols Outer and Inner Space (USA 1966), Dan Grahams Time Delay Rooms, Michael Snows Two Sides to Every Story und auch zu Ken Jacobs, seiner Wiederbelebung der stereoskopischen Dias in stroboskopischen Animationsexperimenten wie Capitalism-Slavery, seiner Endeckung von räumlicher Tiefe in sich zersetzenden Farbfotografien (Razzle-Dazzle), seinem Found-Footage Film Disorient Express (USA 1996) oder der Umarbeitung seines berühmten Tom Tom the Piper's Son (1969) in Anaglyph Tom (USA 2008). Alle diese Künstler und Werke bemühen Genealogien des unorthodoxen räumlichen Dispositivs im Bereich des Einzelbildes wie auch des Bewegtbildes, entweder durch Manipulation der visuellen Hinweisreize (depth cues) oder durch Simulation von Multidimensionalität und manchmal durch beides.39
Jacobs Arbeiten sind besonders bemerkenswert, da er die Illusion der räumlichen Tiefe mit Do-it-yourself-Methoden erzeugt wie zum Beispiel durch stroboskopische Effekte, Flimmern, oder die sogenannte Pulfrich-Technik, bei der hellere und dunklere Linsen nacheinander vor dem Auge platziert werden. Nach dem Verlust eines Auges im Ersten Weltkrieg entdeckte Carl Pulfrich, dass die Verzögerung des Lichtflusses in ein einziges Auge mittels getönter Filter ähnliche Effekte erzeugt wie der stereoskopische Blick. Pulfrich machte also – wie Duchamp und ungefähr zur gleichen Zeit – Gebrauch von Verzögerung, d. h. zeitlicher Disparität, indem er Bilder um die vierte Dimension der Zeit anreicherte, welche wiederum von der Wahrnehmung in räumlichen Begriffen rekonstruiert wird, gleich einer Parallaxe horizontaler Disparität.40 Mit der Wiederentdeckung dieser und weiterer anscheinend überholter Basteltechniken zeigte Jacobs, dass Mechanismen der raumzeitlichen Dis- und Reorientierung des Betrachters bisher weder ästhetisch noch politisch ausgereizt waren. So kann man Jacobs als künstlerischen Nachfahren J.M.W. Turners sehen und Verbindungen zwischen Rain, Steam and Speed und Disorient Express oder, besser noch, zwischen The Slave Ship und Capitalism Slavery entdecken.41
Insgesamt orientierte sich die mit 3D experimentierende Filmavantgarde in Nordamerika aufgrund des Einflusses von Duchamps enigmatischem Minimalismus eher an Skulptur und Performancekunst als an der Malerei. So kann bereits ein einzelnes Werk wie etwa Anthony McCalls bekannte Projektorinstallation Line Describing a Cone eine vollständig neue Genealogie eröffnen, die auch für den zeitgenössischen 3D-Mainstream Gültigkeit hat.42 McCalls Verständnis des Kinoapparates aus dem Jahre 1973 wurde damals als materialistische Demystifizierung des trügerischen Mechanismus interpretiert; heute wird das Werk eher für seine poetischen und geheimnisvollen skulpturalen Qualitäten bewundert. Line Describing a Cone verweist via Etienne Robertsons Phantasmagorias und Peppers Ghost auf Athanasius Kirchers Camera Obscura, noch einen jener Apparate die projiziertem Licht Körper und räumliches Volumen verleihen sollten.43
Eine solche alternative Genealogie oder Ahnengeschichte des illegitimen Bruders des monokularen Kinos sieht 3D – wenn auch vom gleichen Vater, der Camera Obscura abstammend – als blutsverwandt mit den Zigeunerschönheiten des Rummelplatzes und der wandernden Laterna Magica. Diese Genealogie verdeutlicht somit den Hauptpunkt meiner dritten kontraintuitiven Behauptung: 3D ging 2D in der mechanischen Bildproduktion voraus, dennoch gewann 2D dank der Überlegenheit der Fotografie und ihres kulturellen Status das Duell