Bildwerte. Группа авторов
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Veränderungen der raumzeitlichen Wahrnehmung in diesem Sinne benötigen kein 3D-Rendering, selbst wenn sie »imaginierte Dinge« und nicht »reale« darstellen. Roger Ebert macht meines Erachtens in seiner Kritik den Fehler, 3D als erweiterten Realismus im Renaissanceraum zu konzeptualisieren, daher auch der Vorwurf der »Unnatürlichkeit«. Francis Ford Coppola, der sich als einer der Ersten die Räumlichkeit des Tones zunutze gemacht hat, ist bislang nicht von 3D beeindruckt, erinnert aber daran, dass bereits Abel Gance damit experimentierte.52 David Bordwell, ebenfalls eher skeptisch gegenüber 3D, hat in seinem Blog dennoch einige treffende Beobachtungen zum Thema publiziert.53 So erwähnt er zum Beispiel, dass die Animationstechniker in Coraline (USA 2009, R: Henry Selick) 3D-Effekte nicht nutzten, um räumliche Tiefe zu betonen, sondern um Räume zu schaffen, die den Regeln der Perspektive widersprechen, und somit leichte visuelle Anomalien hervorrufen. Mittels künstlicher »Verflachung« des Bildes simulieren sie kognitive Dissonanzen und täuschen die Wahrnehmung, produzieren somit einen Anflug von Klaustrophobie oder Unbehagen, so dass der Zuschauer den Gemütszustand der Protagonistin durch sein körperliches Befinden vermittelt bekommt. Bordwells Kommentare knüpfen an folgende Äußerungen des Regisseurs an:
»I was also looking for what is the difference between the real world and the other world, besides how much depth does it have. […] I had in my mind why don't we just turn up the 3D in the other world, compared with the real world but why don't we in the real world, especially in the interior shots, in the kitchen, the living room, Coraline's Bedroom, why don't we actually build them as if they were flattened, as if they have very little depth. [...] I wanted her life in the real world to feel as if it were claustrophobic, lacking color, a certain sense of loneliness. We did that [...]. We actually built it [the other world] much deeper. And the 3D shows that off.«54
Mit anderen Worten: Regisseure und Drehbuchautoren – in Selicks Fall unterstützt von über 30 Animationstechnikern, digitalen Designern und zweifellos auch Neuropsychologen55 – benutzen den dreidimensionalen Raum nicht so sehr, um uns, den Zuschauern, räumliche Authentizität vorzuspielen. Ganz im Gegenteil, 3D wird eingesetzt, um 2D einen neuen Wert zu geben, entweder um eine Retroästhetik zu erzeugen oder um Effekte aus anderen Systemen der räumlichen Repräsentation zu nutzen, ob sie nun aus Asien stammen (japanische Holzschnitte), aus der Frührenaissance (Fra Angelico), aus der impressionistischen Malerei (Van Gogh)56 oder an die oben angesprochene Frontalität des frühen Kinos erinnern. Letzteres ist der Fall in Tim Burtons Alice in Wonderland (USA 2010) und in Scorseses Hugo, der Darstellungsmodi wiederbelebt, die auf dem Weg zum klassischen Kino mit seiner piktographischen Repräsentation der räumlichen Tiefe unterdrückt oder verworfen wurden.57
Diese Überlegungen führen zu einer bereits angedeuteten, paradoxen Schlussfolgerung: Da das neue 3D keine Rückkehr des »tiefen Raums« im Sinne der sogenannten »Creature Features« der Fünfziger ist, die spitze Objekte in den Kinosaal ragen ließen, wird die Wiederkehr des 3D eher zur Erweiterung der expressiven und konzeptuellen Register des post-euklidischen Raums beitragen. 3D könnte daher unser Wahrnehmungsspektrum erweitern, die emotionale Anteilnahme des Zuschauers verstärken und dazu führen, dass die (ursprünglich als störend empfundenen) Effekte der stereo-optischen visuellen Suggestionen von Raumtiefe stärker mit den monokularen Techniken der Tiefenillusion (Fluchtpunkt, Schattierung, Farbe, Größe) verbunden werden.
Was also bei 3D vermarktet wird, ist nicht ein alter Spezialeffekt als neuer Spezialeffekt, sondern der neue Standard des digitalen Sehens, der einen mehrschichtigen, materiellen, aber auch mobilen und formbaren Raum voraussetzt. Dieser Raum verweist auf ein Spektrum der Stereo-Sinneseindrücke für Auge und Ohr, impliziert aber auch den Nervenkitzel und die Bedrohung des Schwebens und Fallens, der Verirrung und Neuordnung – letztlich all das, was uns aus Blockbusterspektakeln und Animationsfilmen bekannt ist. Als Standard des post-piktographischen räumlichen Sehens und Fühlens des digitalen Zeitalters ist 3D dabei, die Semantik der verkörperten Wahrnehmung zu verändern, so dass der Stereoraum zur ungekennzeichneten Norm und die Mono-Ebene zum Retro-Medium – der »Schallplatte« – werden könnte. Die Stereoskopie würde somit weniger die technische Spezifizität des räumlichen Sehens bezeichnen, sondern viel eher als Metapher oder symbolische Form fungieren, als welche Walter Benjamin sie schon Anfang der dreißiger Jahre begriff. Sie würde dem Überall und Nirgendwo entsprechen, der zum Alltag gewordenen räumlichen Allgegenwärtigkeit. Die Stereoskopie würde somit die Absolutsetzung der Einzelperspektive relativieren, welche die monokulare Perspektive, unsere symbolische Form der letzten fünfhundert Jahre, bedingte.58 Falls eine solche Neuorientierung und Verlagerung sich tatsächlich vollzieht, dann spielt das 3D-Kino dabei eher eine partielle und untergeordnete Rolle. Es ist nur ein Symptom oder Element von vielen. Sollte es allerdings der Logik des Supplements unterliegen, dann wäre seine Rolle trotz seiner Randständigkeit dennoch von äußerst gewichtiger Bedeutung.
Lügen und Handeln: Operative Bilder
Meine zweite Einzelerfahrung, die auf eine kulturelle Veränderung hindeutet, beruht auf einer Begegnung mit einer Siebenjährigen. Ich saß mit Freunden beisammen und zeigte ihnen einige Bilder von uns allen – Bilder, die wir vor vielen Jahren gemacht hatten, und die ich nun digitalisiert und auf meinen Laptop geladen hatte. Eine ihrer Töchter stand neben mir. Anstatt die Fotos zu betrachten und Zeit, Ort oder die abgebildeten Personen zu erfragen, ergriff sie die Maus und fuhr mit dem Cursor über das Bild. Da nichts geschah, verlor sie rasch das Interesse, obwohl es sich um ein Bild handelte, das ihre Eltern zeigte, als sie noch jung waren und sie selbst noch nicht geboren war. Für ihre Generation sind Bilder auf einem Computerbildschirm also nicht etwas, auf das man blickt, sondern etwas, worauf man klickt – in der Erwartung, dass etwas passiert, dass sich etwas bewegt, dass man woanders hingelangt, einen weiteren Bildraum betritt. Die Idee des digitalen Fotos als Fenster auf eine Szene (die man betrachten kann oder deren Zeuge man wird) war für sie durch die Vorstellung vom Bild als Passage oder Portal ersetzt worden, als Schnittstelle, Teil eines fortlaufenden Prozesses – kurzum: als einem Handlungssignal.
Wie würde sich ein solcher Wandel unserer Standarderwartungen auf das Konzept des Bildes auswirken und darauf, was es heißt, mit und durch Bilder zu interagieren, in Bildern zu leben? Sobald man die Rückkehr des 3D in diesem etwas erweiterten Kontext betrachtet und sich nicht länger nur auf Filme und die okulare Wahrnehmung beschränkt, zeichnet sich eine andere, dennoch möglicherweise komplementäre Logik