Nixentod. Thomas L. Viernau

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Nixentod - Thomas L. Viernau

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      Von der Decke hing hier eine nackte Glühbirne. Die Vorhänge waren zugezogen, es roch muffig nach abgestandener Luft. Wozu dieser Raum einst genutzt wurde, ließ sich schwer nachvollziehen. Als Gästezimmer war es zu spartanisch eingerichtet und für eine Abstellkammer einfach zu groß.

      Linthdorf hob den Teddy auf. Es war noch einer der altmodischen Plüschbären mit der klassischen Teddybärenphysiognomie. Er hatte etwas Unschuldiges, blickte mit seinen Knöpfchenaugen zufrieden und stumm. Sein Bauch war rund und er machte das typische Geräusch, wenn man ihn bewegte. Moderne Familien kauften ihren Kindern grellfarbene Plüschmonster aus den aktuellen Disneyfilmen oder irgendwelche Softgummi-Saurier. Altmodische Teddys gehörten mehr in Antiquitätenläden oder in Glasvitrinen älterer Damen. Seltsam, dass ein solcher Bär hier so achtlos herumlag.

      Die letzte Tür. Linthdorf öffnete sie vorsichtig. Es war die Küche. Ausgestreckt auf dem Boden lagen zwei Katzenkadaver. Wahrscheinlich jämmerlich verhungert. Die zerfetzten Reste der Katzennahrungstüten waren verteilt auf dem Küchenboden. Im Regal standen fein säuberlich aufgestapelt flache Dosen mit Katzenfutter, welche allerdings für die beiden Tiere unerreichbar geblieben waren. Sie konnten den Dosenöffner nicht bedienen.

      Linthdorf atmete tief durch und zwang sich, die beiden Kadaver anzusehen. Sie schienen dehydriert zu sein, machten den Eindruck beginnender Mumifizierung. Im Waschbecken türmte sich Geschirr mit eingetrockneten Spuren diverser Lebensmittel. Die verzweifelten Tiere hatten versucht, essbare Reste noch abzuschlecken. Auch hier fehlten die Bilder an der Wand. Nur eine Uhr hing einsam über der Spüle. Auch sie war tot, stehen geblieben um zwölf Uhr.

      Von der Küche ging eine Tür ins Bad. Der Spiegelschrank beherbergte eine Sammlung kleiner Flakons mit mehr oder weniger eigenartig riechenden Substanzen. Das Schubfach unterm Spiegelschrank stand offen. Darin eine Plastiktüte mit etwas dunklem Gekrümel. Linthdorf schnupperte, eindeutig Marihuana. Im Bericht des Gerichtsmediziners wurde explizit darauf hingewiesen. Karolin Brakel war Kifferin.

      Nachdenklich zog er sich zurück, sorgsam darauf achtend, nichts zu verstellen oder etwas zu bewegen. Die Wohnung gab ihm Rätsel auf.

      Lebte Karolin Brakel hier allein? Unwahrscheinlich. Aber nichts deutete auf eine weitere Person hin.

      Wo waren die Bilder, die einst die Wände zierten?

      Was hatte es mit dem fast leeren Zimmer auf sich, wo nur ein Teddybär noch residierte?

      Linthdorf machte sich auf den Heimweg, draußen regnete es. Er schlug seinen Mantelkragen hoch und zog sich den Hut tief ins Gesicht, eilte zum Auto und fuhr ins Dunkel der Nacht.

      Berlin-Friedrichshain

      Samstag, 21. Januar 2006

      Wochenende. Draußen war der strenge Frost in Schmuddelwetter übergegangen. Es war trübgrau und nieselte. Linthdorf war wie üblich schon um halb acht wach geworden, saß in der kleinen Küche, lauschte den Klängen vom »Berliner Rundfunk«, der ein etwas nerviges Gewinnspiel zwischen den Musiktiteln seinen morgendlichen Hörern zumutete.

      Vor ihm stand ein großer Becher mit starkem Kaffee auf dem Tisch. Ein Glas Pflaumenmus und eine Packung mit acht einzeln verpackten Würfeln Frischkäse waren etwas achtlos auf dem karierten Tischtuch verteilt. Diese Momente der Besinnung waren in seinem Leben rar geworden.

      Er flüchtete sich in seine Arbeit und versuchte einen Sinn in seinem Tun zu finden, nachdem seine private Welt nun schon wiederholt Schiffbruch erlitten hatte. Die Trümmer seiner familiären Welt bekam er alle vierzehn Tage zu sehen.

      Das waren seine beiden Söhne, die inzwischen auch schon recht flügge waren und die kurz bemessene Zeit mit ihm nutzten, einmal richtig auszugehen in ein Restaurant und danach noch einen Kinofilm zu sehen. Linthdorf genoss diese kurze Zeit familiärer Vertrautheit. Er war eigentlich ein Familienmensch, litt immer noch unter der Trennung von seiner Frau. Keine neue Kandidatin hatte es bisher geschafft, den Platz in seinem Herzen einzunehmen, den Corinna einst innehatte. Privat kam er sich seither nur als halber Mensch vor. Die ersten Monate nach der Trennung waren eine einzige Hölle für ihn. Er betäubte sich mit Überstunden und einem Arbeitswahn, der ihn fast umbrachte.

      Seine sowieso nur knapp bemessene Schlafenszeit wurde auf drei bis vier Stunden verkürzt. Oft lag er nächtelang wach, grübelte über sein Schicksal und führte stille Gespräche mit Corinna, die wie eine Traumfigur immer mehr verblasste und feenhafte Züge annahm.

      Anfangs setzte er sich in solch schlaflosen Nächten ans Steuer seines damals noch neuen Dienstwagens und kurvte durch die Straßen Berlins, bis es wieder hell wurde. Sein Benzinverbrauch stieg und sein Nervenkostüm wurde immer dünner.

      Er lief tagelang gereizt herum, selbst gute Freunde machten einen Bogen um ihn.

      Inzwischen war wieder etwas Normalität in den Alltag gekommen. Diese Normalität war allerdings eine sehr fragile, brüchige Sache. Kleinste Dinge reichten oft aus, um Linthdorfs Lebensgefüge aus der Balance zu bringen. Die Folge waren erneut schlaflose Nächte.

      Linthdorf hatte sich mit dieser Situation arrangiert. Die Intimität der Dunkelheit wurde ihm eine Schutzhülle, in der er sich sicher und gelöst bewegen konnte. Die nervigen Dinge des Alltags existierten nachts nicht mehr. Kein Telefongeläut zerriss die samtige Harmonie der Nacht. Oft stand er am Fenster, beobachtete den abflauenden Verkehr oder starrte einfach nur in die dunkelgelb glimmende Mondscheibe.

      Komisch, dachte er, wenn er dorthin mit seinen Gedanken flüchtete, von hier aus hat er so eine schöne Farbe, aber die Welt da oben soll ganz ohne Farben sein, nur Grau, Schwarz und Weiß. In seinem Bücherregal stand ein Bildband mit den spektakulärsten Mondaufnahmen, die von den amerikanischen Mondlandeunternehmen gemacht worden waren. Anfangs hatte er diese Bilder der fremden Welt mit großem Interesse in sich eingesogen, war aber dann von der trostlosen Farblosigkeit, die von den Hochglanzfotos ausgingen, doch enttäuscht. Lieber schaute er sich den Mond aus der sicheren Entfernung an, dann konnte man mit ihm in einen stummen Dialog treten.

      Linthdorf fühlte sich hier in Berlin als einer von vielen Einsamen, das machte die Situation erträglicher.

      Irgendwo im Radio hatte er bei einem Gespräch von klugen Leuten erfahren, dass Berlin Deutschlands Single-Stadt Nummer Eins sei, über 800.000 einsame Menschen sollten hier in der Stadt leben. Zählte er seinen Bekanntenkreis durch, musste er dieser Erhebung Recht geben. Fast alle lebten in den Trümmern einstiger Zweisamkeit, führten Fernbeziehungen oder nur ein Wochenendverhältnis mit ebenso gestressten und vereinsamten Menschen. Der unglaublich schnelle Takt des Lebens in dieser Stadt zog zu viel Energie aus den Körpern und Seelen. Die Leere, die dann in den stilleren Momenten des Privaten einzog, war für viele Beziehungen zu einer Falle geworden.

      Linthdorf hatte sein Frühstück beendet. Auf dem Tisch lag noch die Wochenendausgabe der Zeitung. Er blätterte darin, ein riesiger Immobilienteil nervte. Er suchte nach dem Kreuzworträtsel. Es war für ihn ein Vergnügen, die Seiten füllenden Wortfragereien zu lösen. Linthdorf hatte inzwischen schon so eine Routine beim Lösen der Kreuzwörter entwickelt, dass er mit fast schlafwandlerischer Sicherheit durch die Kästchen eilte. Die Buchstaben glichen nur noch Krakeln. Die meisten gesuchten Wörter waren Standardabfragen, beim geübten Rater längst abgespeichert irgendwo im Großhirn, wo noch Platz für unnützes Wissen war. Er war erstaunt, wie viel er davon in seinem Kopf zur Verfügung hatte. Manchmal dachte er, dass überhaupt nichts mehr von ihm behalten wurde.

      Irgendwelche Daten über Verbrecher und bearbeitete Vorgänge schwirrten in den Tiefen seines Unterbewusstseins herum und plagten ihn dann nachts in seinen Träumen. Das waren die Augenblicke, in denen er an seinem Tun zu zweifeln anfing.

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