Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley
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Ich war sehr ergriffen von Griffins emotionalem und spirituellem Ringen mit seiner Behinderung, von seiner außerordentlichen Selbstwahrnehmungsfähigkeit und der kompromisslosen Klarheit, mit der er seine manchmal widersprüchlichen Gefühle darzustellen wusste. In seinen Memoiren lässt er zuweilen andere für sich sprechen. Als er noch ein wenig sehen konnte, besuchte er Tours, wo er einen blinden, heruntergekommenen Straßenhändler traf. Für beide war es eine sehr eindrucksvolle Begegnung: Griffin hatte noch nie zuvor mit jemandem darüber gesprochen, was es heißt, blind zu sein, und der Straßenhändler war nie zuvor wegen seiner Blindheit geschätzt worden. Die Schilderung der schmerzhaften Einsamkeit eines Lebens mit einer Behinderung, wie sie der Straßenhändler beschrieb, wühlte mich im Innersten auf:
Ich lebe seit fast fünfzig Jahren in diesem Viertel. Keiner weiß, wie ich heiße … ich habe keinen Namen, nur eine Behinderung … ich bin der Blinde … Als ich jung war wie du, sehnte ich mich so sehr nach Zuneigung, dass ich es sogar bei Prostituierten versucht habe. Weißt du warum? Es ging eigentlich nicht um Sex, sondern darum, berührt zu werden … Einen Orgasmus kann man kaufen, aber nicht jene liebevollen Berührungen, die ihm Bedeutung geben. Man kauft nur eine elendere Erbärmlichkeit … ich hasste sie deswegen.
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Die persönliche, innere Dimension meiner eigenen Heilung war im Grunde ein spiritueller Weg, auf dem ich Trost in der Weisheit meiner Glaubenstradition fand. Einmal hatte ich eine Ikone der orthodoxen Kirche gesehen, auf der Jesus mit zwei ungleich langen Beinen dargestellt war. Die vorherrschende westliche Ikonografie zeigt Jesus immer mit einem makellosen weißen männlichen Körper – einem Körper, den so niemand besitzt, außer vielleicht in Hollywood. Doch da war er, mit einem gravierenden Mangel, so wie ich. Wahrscheinlich ging das Bild auf Jesajas Gleichnis vom leidenden Knecht zurück:
Siehe, mein Knecht wird weislich tun und wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. Gleichwie sich viele an dir ärgern werden, weil seine Gestalt hässlicher ist denn anderer Leute und sein Ansehen denn der Menschenkinder, also wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn welchen nichts davon verkündigt ist, die werden’s mit Lust sehen; und die nichts davon gehört haben, die werden’s merken.
Der leidende Knecht nimmt natürlich den jüdischen Messias vorweg, hässlich, verunglimpft und verschmäht – eine Passage von Jesaja, die durch Händels glorreiches Altsolo „He was despised“ im zweiten Teil seines „Messias“ berühmt wurde:
[31]Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet.
Während ich über diese Bibelpassagen nachdachte und ihre heilsame Wirkung verspürte, begriff ich, dass Behinderung eigentlich die Norm des menschlichen Befindens darstellt. Unvollkommenheit, Unvollständigkeit, Versehrtheit – sie alle sind universelle menschliche Erfahrungen. Menschen mit schlimmen körperlichen Behinderungen spiegeln die Wirklichkeit der gesamten Menschheit wider. Einige Jahre später, bei meiner Arbeit mit dem Institute for Healing of Memories, schafften die sichtbaren Zeichen meines Leidens ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, die ihre eigenen sichtbaren oder unsichtbaren Wunden mit sich trugen. Mit der Zeit überbrückte diese Verbundenheit Kulturen, Religionen und räumliche Entfernung. Schmerz ist tatsächlich ein Weg zur Transzendenz.
Der heilige Laurentius war ein christlicher Märtyrer im zweiten Jahrhundert, dem von römischen Verfolgern befohlen wurde, den Reichtum der Kirche als Tribut abzugeben. Natürlich erwarteten sie Gold und Silber. Stattdessen brachte Laurentius ihnen Alte, Kranke, Blinde und Menschen, die nicht gehen konnten. „Seht her“, sagte er, „sie sind der Reichtum der Kirche.“ Ich verstand, dass behinderte Menschen wie wir der Reichtum der Menschheit sind. Wir sind ein Ausdruck dafür, dass Zerbrechlichkeit, Krankheit und Versehrtheit zwangsläufig zum menschlichen Leben gehören. Durch unser Hilfebedürfnis verkörpern wir die Abhängigkeit der Menschen voneinander. Wir erwecken die Gabe des Mitgefühls in unseren Mitmenschen und erinnern sie daran, dass wir einander brauchen und niemals alleine ganz Mensch sein können. „Ich bin, weil du bist“, lautet ein Sprichwort in vielen afrikanischen Sprachen. Anders ausgedrückt, ein Mensch wird erst durch andere Menschen ein Mensch. In Südafrika sprechen wir von „Ubuntu“, der Großmut auf dem gemeinsamen Weg zur Ganzheit. Wenn behinderte Menschen wie ich einen Platz an der Sonne verlangen, bitten wir unsere Mitmenschen nicht nur darum, nett zu uns zu sein. Unsere Botschaft lautet vielmehr: „Ohne uns könnt ihr keine echte Gemeinschaft erlangen.“ Wir wollen kein Mitleid, sondern Gerechtigkeit. „Schließt uns nicht nur in eure Gemeinschaft mit ein, lasst uns vielmehr gemeinsam eine schaffen“, sagen wir. Das ist eine völlig andere Auffassung.
Manchmal frage ich mich, warum ich den Anschlag überlebte, während ich so viele meiner Freunde zu Grabe getragen und ihnen Lebewohl gesagt habe. Ich glaube, dass die Spuren des Anschlags Zeugnis ablegen von den Grausamkeiten, zu denen wir Menschen fähig sind, und diejenigen als Lügner entlarven, die diesen Horror leugnen oder kleinreden. Wichtiger aber noch ist meines Erachtens, dass Menschen, die sichtbar unter Krieg und Folter gelitten haben, liebevolle Reaktionen in anderen Menschen hervorrufen, was wiederum ein Zeichen dafür ist, dass Gerechtigkeit, Frieden, Güte, Mitgefühl [32]und Hingebung stärker sind als Hass, Gottlosigkeit und Tod. Das ist die Botschaft der Erlösung.
Am 27. April 1991 wurde in der anglikanischen Kirche in Harare ein Dankgottesdienst abgehalten, um den ersten Jahrestag meiner Rettung zu feiern. In meiner Ansprache erklärte ich der Kirchengemeinde, dass ich nur dank ihrer Unterstützung und der Hilfe Gleichgesinnter in aller Welt den Sieg davontragen konnte, und ich schloss mit den Worten:
„Diejenigen, die mir die Briefbombe schickten, sind eher Opfer als ich. Der Anschlag hat nicht nur meinen Glauben und mein Mitgefühl vertieft, sondern auch dazu geführt, dass ich meine Ganzheit verstanden und mich noch stärker für Gerechtigkeit und Freiheit in Südafrika und in der ganzen Region eingesetzt habe … Deswegen sage ich Euch jetzt, herzlichen Glückwunsch! Wir haben gewonnen! Der Sieg ist unser! Makorokoto!“
[33]Teil II
Freiheitskämpfer
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