Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley
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Ungefähr zwei Wochen nach meiner Ankunft in Sydney diktierte ich einen Brief, den mein Freund George Makoko an Freunde und Unterstützer in der ganzen Welt schickte:
Liebe Freunde,
am Samstagabend, den 28. April, öffnete ich eine Briefbombe aus Südafrika. Sie sollte mich umbringen, aber ich bin am Leben! Mein Körper ist gezeichnet, aber ich lief ja noch nie Gefahr, einen Schönheitswettbewerb zu gewinnen.
Einerseits ist mein Geist so zerbrechlich wie der jedes anderen Menschen auch. Andererseits bin ich gestärkt und mehr denn je entschlossen, gemeinsam mit dem südafrikanischen Volk für ein neues und freies Südafrika zu kämpfen. Die Geburtswehen dieses Landes sind weiterhin sehr schmerzhaft und verlangen viele Opfer. Ich hoffe und bete, dass alles, was mir widerfahren ist, mich zu einem sensibleren und mitfühlenderen Menschen macht.
Es wird wohl lange dauern, bis mein Heilungsprozess abgeschlossen ist und ich wieder mit ganzer Kraft zum Kampf beitragen kann. Die Flut von Liebesbekundungen, Gebeten, Unterstützung und Verbundenheit von Menschen aus der ganzen Welt hat mich völlig überwältigt, zutiefst gerührt und gestärkt. „Danke“ zu sagen erscheint mir völlig unzureichend und banal in Anbetracht dessen, was Ihr mir alle gegeben habt. Eines Tages werde ich versuchen, die Geschichte dieses verhängnisvollen Abends, wie sie sich in meine Erinnerung eingebrannt hat, und die Geschichte einiger der vielen Menschen zu erzählen, denen ich mein Leben zu verdanken habe.
Viele von Euch wissen bestimmt, dass ich seit längerer Zeit Mitglied vieler Familien bin. Als erste ist da natürlich meine biologische Familie. Dann gibt es meine Ordensgemeinschaft, die Society of the Sacred Mission. Ferner gehöre ich seit einigen Jahren der großen Familie des African National Congress in Südafrika an, der den Befreiungskampf Südafrikas anführt. Sechseinhalb Jahre lang teilten darüber hinaus die Basotho ihr Leben mit mir. Seit 1983 sind Simbabwe und seine Menschen in so vieler Hinsicht mein Zuhause, dass ich hier nicht alle aufzählen kann. Menschen, die sich auf der ganzen Welt für ungezählte andere Ziele einsetzen, bereichern weiterhin mein Leben. In meiner eigenen Notlage haben sich all diese Familien vereint. Gemeinsam werden wir überleben und gewinnen.
Wie immer, weiterhin kampfbereit und mit viel Liebe
Michael Lapsley, SSM
Mein Schwager Clive wusste, dass ich süchtig nach Nachrichten bin, aber noch nicht lesen konnte. Er war sehr einfühlsam und nahm Auszüge aus großen Tageszeitungen für mich auf. Das half mir, die Zeit totzuschlagen. Insgesamt verbrachte ich sieben Monate in zwei Krankenhäusern in Australien [17]und musste eine ganze Reihe von Operationen über mich ergehen lassen. Man operierte mich, um meine Armstümpfe zu reinigen, sodass sie die Prothesen vertragen würden. Andere Operationen dienten dazu, meine Augenhöhle für das künstliche Auge vorzubereiten. Meine zwei Ohroperationen waren nicht ganz erfolgreich. Bis heute ist mein Hörvermögen eingeschränkt. Mir graute vor diesen Operationen, und ich hatte Angst. Opfer eines Briefbombenanschlags zu werden war eine Sache. Immer wieder in den Operationssaal gerollt zu werden, bedeutet eine ganz andere Art von Trauma. Man hat viel zu viel Zeit, sich auszumalen, was auf einen zukommt. Zum Glück waren die Australier Meister der Schmerztherapie. Bei unsachgemäßer Behandlung können amputierte Menschen unter Phantomschmerzen leiden, manchmal sogar für den Rest ihres Lebens. Dank der Kunstfertigkeit, mit der die Ärzte mir Schmerzmittel verabreichten und sie langsam wieder absetzten, als ich sie nicht mehr brauchte, habe ich nie Phantomschmerzen gespürt.
Eine Psychologin wurde geschickt, um mir zu helfen, meine Operationen zu bewältigen. Bei ihrer Ankunft stellte sich heraus, dass sie eine weiße Südafrikanerin war. Überraschenderweise litt sie unter unserem Treffen. Nach ihrem Empfinden hatte ihr Volk einen Bombenanschlag auf mich verübt. Ich übernahm also schließlich die Rolle des Priesters und Helfers, obwohl sie doch die Psychologin und ich der Patient war. „Hören Sie, ich habe kein Problem damit, dass Sie eine weiße Südafrikanerin sind. Einige meiner besten Freunde sind Weiße. Ich bin ja selbst weiß. Aber ich hätte ein Problem damit, wenn Sie persönlich für die Apartheid wären“, sagte ich zu ihr. Sie trug schwer an der kollektiven Schuld und Scham für das, was mir von denen angetan wurde, die sie als ihresgleichen ansah.
„Glauben Sie, dass Sie die südafrikanische Regierung verärgert haben?“, fragte mich der Krankenhausseelsorger, als er zu mir kam. Ich war so perplex, dass ich ausnahmsweise mal sprachlos war. „Das will ich schwer hoffen, verdammt noch mal!“, hätte ich antworten sollen. An einem anderen Tag sagte er: „Natürlich gibt es unterschiedliche Meinungen zur Apartheid.“ Diesmal war ich aber vorbereitet und erwiderte: „Ja. Die Weltgemeinschaft hält sie für ein Verbrechen gegen die Menschheit, die Christengemeinde für Ketzerei, und dann gibt es natürlich auch noch diejenigen, die Apartheid unterstützen.“ Er kam nie wieder. Vier Monate verbrachte ich auf dieser Station. Wenn ich mich einmal daneben benahm, sagte mir die Krankenschwester mit einem Augenzwinkern: „Sie sind heute aber wirklich schwierig. Wenn Sie nicht aufpassen, rufen wir den Seelsorger.“ Sie drohte mir also mit der Höchststrafe!
Schließlich organisierte das Krankenhaus die Visite eines Psychiaters, Dr. Murray Wright. Er war freundlich und hilfsbereit. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Er kam vier Monate lang jede Woche. Es war unendlich hilfreich, mit einem Außenstehenden über alles reden zu können, was mich in dem Moment verrückt zu machen drohte: die Furcht vor dem Leben mit einer [18]Behinderung sowie die alltäglichen Dinge im Krankenhaus und die Beziehungen zu Familienmitgliedern. Mit Menschen, denen ich nahestand, hätte ich über all diese Dinge nicht geredet, aus Angst, sie zu verletzen oder zu beleidigen. Ich musste all dies aber in einem sicheren Umfeld loswerden. Dr. Wright hat mir sehr geholfen, und dafür bin ich dankbar. Als wir zusammen zu Mittag aßen, bevor ich das Krankenhaus verließ, erzählte er mir, dass er sich bei mir zum ersten Mal in seiner Karriere nach dem ersten Treffen mit einem Patienten keine Notizen gemacht hatte. „Ich hielt Sie für einen außerordentlich ausgeglichenen Menschen. Sie haben dieses Trauma großartig bewältigt“, erklärte er mir. Dann gab er zu, so viel Freude an unseren Gesprächen gehabt zu haben, dass er sie einige Wochen länger als nötig fortführte.
Da mein rechter Arm gebrochen war, erhielt ich zunächst die Prothese für meinen linken Arm, und so begann der schwierige Prozess der Anpassung an meine Behinderung. Ich musste mich an die Veränderung in meinem Aussehen und meiner Körperwahrnehmung gewöhnen. Dabei stellte ich fest, dass ich die Haltung der Menschen um mich herum unwillkürlich verinnerlicht hatte. Ich kann mich an einen Freund in Lesotho erinnern, der sich für eine junge Frau interessierte. Als er feststellte, dass sie behindert war, änderte sich seine Haltung schlagartig. „Natürlich konnte ich keine Beziehung mit ihr eingehen“, sagte er. Diese negativen Gefühle beschleichen uns alle, und ich bildete da keine Ausnahme. Der Prothetiker half mir, indem er ein Treffen mit einem jungen Mann arrangierte, der beide Hände bei einem Unfall verloren hatte und sein Leben dennoch zielstrebig weiterführte. Ich war dankbar, ein derart starkes Vorbild zu haben.
Kurz nachdem ich meine zweite Prothese erhalten hatte, besuchte mich meine Schwester Helen. Als ich in den Spiegel schaute, war ich entsetzt. „Mein Gott, so werde ich für den Rest meines Lebens aussehen“, dachte ich. In diesem Augenblick verhielt sich Helen wundervoll. Sie war auch der Meinung, dass die Prothesen hässlich waren. Wir saßen zusammen, weinten und tranken etwas Hochprozentiges. Das unausgesprochene Gefühl war etwa: „OK, so ist es nun mal. Tun wir nicht so, als sähe es gut aus.“ Ich werde immer noch jeden Tag unzählige Male daran erinnert, dass ich meine Hände nie wiederbekommen werde. Man trauert über den Verlust eines Körperglieds genauso wie über den eines geliebten Menschen, der ja auch Teil unseres Lebens ist. Er beeinflusst jeden Tag jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens. Das Gefühl ist nicht erdrückend oder übermächtig, aber es ist immer da.