Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley

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Mit den Narben der Apartheid - Michael Lapsley

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Herausforderung besteht darin, die Behinderung als Realität zu akzeptieren. Die zweite ist funktional – man muss lernen, im Alltag zurechtzukommen. Ursprünglich wünschte ich mir unbedingt Prothesen, die wie Hände aussahen. Die bekam ich auch und habe sie immer noch. Aber sie sind einfach unpraktisch. Ich trug sie ein- oder [19]zweimal, aber letztendlich überwog der praktische Nutzen gegenüber der Ästhetik, und so entschied ich mich für die Haken, die ich jetzt benutze. Bischof John Osmers, mit dem ich befreundet bin, hat vor vielen Jahren in Lesotho einen Arm durch eine Paketbombe verloren. Mir wurde schnell klar, dass es ungleich viel schlimmer ist, beide Hände zu verlieren. John konnte nämlich fast alles mit seiner einen Hand erledigen. Er hatte, wie die meisten Menschen, die „nur“ eine Hand verloren haben, eine Prothese in der Schublade liegen, benutzte sie aber nie. Für mich war es sehr viel schwerer, weil ich die Prothesen für jeden Aspekt des täglichen Lebens brauche.

      Bei der zweiten Herausforderung geht es also um die Bewältigung des täglichen Lebens. Die Physiotherapeuten begannen mit den grundlegenden Dingen wie Toilettenbenutzung, Duschen und Anziehen. Besonders bemerkenswert fand ich, mit wie viel Einfühlungsvermögen sie sich bemühten, die Therapie den Besonderheiten meiner Arbeit anzupassen und die Qualität meines täglichen Lebens zu verbessern. „Was müssen Sie als Priester machen? Was brauchen Sie dafür?“ fragten sie mich, da ich ja Priester bin. Ich erklärte, dass ich Gottesdienste abhalten und in der Lage sein muss, ein Auto zu fahren. Sie erkundigten sich auch, was mir im Leben Freude bereitet. Ich antwortete, dass ich gerne fotografiere. Ich folgte ihrer Aufforderung, den Fotoapparat mitzubringen. Sie statteten ihn mit einer Vorrichtung aus, sodass ich ihn halten konnte, was sonst völlig unmöglich gewesen wäre. Sie hätten in mir auch einfach nur einen Körper sehen, mir die technischen Funktionen meiner Prothesen beibringen und mich wegschicken können. Stattdessen bestätigten sie mich als vollwertigen Menschen, indem sie mich fragten, was zu meiner Lebensqualität beiträgt und meinem Leben einen Sinn gibt.

      Die dritte und womöglich wichtigste Herausforderung findet auf der geistigen Ebene statt. Ich möchte nicht allzu dramatisch klingen, aber eine derartig schwere Verletzung wirkt verheerend. Niemand kann vorhersehen, wie man darauf reagieren wird. Bis dahin hatte ich mich in meinem Leben nicht unterkriegen lassen. Ich war zweifellos oft auf die Probe gestellt worden und hatte in kritischen Situationen eine gewisse Charakterstärke bewiesen. Dies hier jedoch war eine Herausforderung von ganz anderem Kaliber. Trotz meiner scheinbaren Robustheit hatte ich immer auch das Gefühl, empfindlich und verwundbar zu sein. Ich habe Schmerz nie mit Leichtigkeit ertragen. Nach dem Bombenanschlag hatte ich jedoch solche Schmerzen, dass es kaum vorstellbar ist, dass ein Mensch sie ertragen kann. Dadurch aber wurden in mir ungeahnte Kräfte freigesetzt. Doch nun stellte sich mir eine neue Aufgabe. Wie würde ich auf meine körperliche Einschränkung reagieren? Würde ich lernen, für den Rest meines Lebens Hilfe zu akzeptieren? Im Westen treiben wir den Wunsch nach Selbstständigkeit oft ins Absurde. Natürlich brauchen wir etwas Unabhängigkeit, wo immer das möglich ist. Mir ist jedoch klar geworden, dass nicht nur ich, sondern alle Menschen ein gesundes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit akzeptieren lernen müssen. Die [20]Wochen vergingen, und meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Manchmal schafft man’s, manchmal nicht, aber man muss sich eingestehen, dass man seine Unabhängigkeit in einem Maß verloren hat, das man nie wieder ausgleichen kann, und dass man diesem Verlust immer nachtrauern wird. Es gibt unzählige Kleinigkeiten, die wir auf unsere eigene Art und Weise für uns selbst tun. Wenn Menschen uns helfen, tun sie dies auf ihre Art und nicht auf unsere. Das müssen wir akzeptieren, und das fällt uns manchmal recht schwer. Mein Leben würde von jetzt an völlig anders verlaufen, und ich musste mich fragen, was mir in diesem neuen Leben wichtig sein würde. Letztendlich ist dies eine spirituelle Frage, die einen neuen und tiefgründigeren Abschnitt meines Glaubensweges einleitete.

      Als strenggläubiger Junge, der ganz in seinem Glauben aufging, stellte ich mir oft vor, wie gläubige Christen Stigmata entwickelten, also Wundmale von der Kreuzigung Jesu auf dem Körper eines Gläubigen. Im Laufe der Zeit wurde immer wieder von Stigmata berichtet, besonders von Mitgliedern geistlicher Orden, denen ich ja beitreten wollte. In meinem Fall handelte es sich um frühreife Vorstellungen eines stark religiös geprägten Jugendlichen. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ich schließlich die erkennbaren traumatischen Zeichen einer Art von Kreuzigung trug. Selbst aus der Sicht eines gereiften Gläubigen war dies eine Möglichkeit, dem Geschehen Sinn zu verleihen.

      Wie so oft in diesen Fällen spricht Gott durch Menschen. Während meiner Genesung erhielt ich viele Botschaften mit Gebeten, Liebesbekundungen und Unterstützung, und ich erinnere mich besonders an die Rolle, die Kinder bei meiner Genesung spielten. Die Wände meines Krankenzimmers waren bedeckt mit Bildern und Zeichnungen, die mir Kinder aus Australien und Kanada, auch meine liebe kleine Nichte Lizzie Bick, zugeschickt hatten. Die kanadischen Kinder hatte ich erst ein paar Wochen vor dem Bombenanschlag kennengelernt, als ich in ihrer Schule in North Bay sprach. Sie waren erschüttert über die Nachricht, weil sie mich kannten und sich mir persönlich verbunden fühlten. Die australischen Kinder hingegen kannten mich nicht, waren aber dennoch von meiner Geschichte ergriffen. Gläubige und nichtgläubige Menschen schickten mir Botschaften der Liebe und des Zuspruchs. Das war das Mittel, mit dem Gott mir ermöglichte, den Anschlag auf mich in Erlösung umzuwandeln, Leben aus dem Tod und Gutes aus Bösem erwachsen zu lassen. „Es war Gottes Wille“, sagen mitunter wohlmeinende Christen. Das weise ich energisch zurück! „Oh, Sie meinen also, dass Gott Briefbomben baut?“, antworte ich darauf. Wenn ich sage, dass mir aus dem Anschlag etwas Erlösendes erwachsen ist, so heißt das nicht, dass das Böse nicht böse bleibt.

      Meine Verluste sind offensichtlich dauerhaft, aber ebenso dauerhaft ist der Gewinn für mich und für andere. Ich habe durch den Anschlag zwar viel verloren, aber ich habe immer noch viel und habe auch etwas hinzugewonnen. Mein Lebensweg hat mich unermesslich bereichert, sodass mein Leben nicht nur aus [21]Bedauern besteht. Natürlich denkt ein Teil von mir: „Wenn ich doch nur bemerkt hätte, dass es eine Bombe war, und sie nicht aufgemacht hätte.“ Aber Gott ermöglichte mir, dem Anschlag etwas Erlösendes abzugewinnen. Manche Menschen, denen Schreckliches widerfahren ist, haben wohl überlebt, bleiben aber Gefangene dieses Abschnitts ihrer Vergangenheit. Meiner Meinung nach muss man einen weiteren Schritt bewältigen, indem man vom passiven Objekt der Geschichte – jemand, dem etwas Furchtbares zugefügt wurde – wieder zum aktiven Subjekt der Geschichte wird. Dazu muss man wieder zu einer Person werden, die sich an der Gestaltung der Welt schöpferisch beteiligt. Ich erkannte, dass ich immer Opfer bleiben würde, wenn ich Hass, Bitterkeit und Rachedurst nachgeben würde. Die Unterdrücker hätten dann zwar nicht meinen Körper getötet, aber sicherlich meine Seele. Die Welle von Liebe und Unterstützung, die ich erfuhr, ermöglichte es mir, den Weg vom Opfer zum Überlebenden und schließlich zum Sieger zu gehen. Das ging nicht schnell und es war auch nicht einfach. Es war ein langer Weg, der auch heute noch nicht zu Ende ist. Zunächst ging es darum, gesund zu werden und zu meinem Leben zurückzufinden, um es dann so erfüllt und mit so viel Freude zu leben wie möglich. Das würde mein Sieg sein.

      Oft äußern sich Menschen sehr wohlmeinend über mich und stellen mich manchmal auch als Vorbild hin. Manches ist angemessen, aber anderes, obwohl es gut gemeint ist, wirkt entmenschlichend. Ich wäre nicht derjenige, der ich jetzt bin, ohne die Unterstützung der vielen, vielen Menschen, die mich liebten und sich um mich sorgten. Es ist nicht nur mein, sondern auch ihr Sieg. Wir neigen dazu Menschen, die wir bewundern, auf ein Podest zu stellen. Aber ich bin keine Heiligenstatue. Fragt den Menschen, der mir im Alltag hilft, er wird sagen, dass an mir nichts Heiliges ist. Mit meinen vielen menschlichen Schwächen kann ich für andere eher ein Beispiel abgeben als eine Heiligenfigur, die alles ohne Schaden zu nehmen und ohne Widersprüche überstanden hat. Wenn ich durch die Straßen Südafrikas gehe, werden Menschen durch mein Aussehen mit der Wahrheit unseres Volkes und mit dem, was wir uns gegenseitig angetan haben, konfrontiert. Es stimmt also, ich bin ein Symbol des Triumphes über das Unheil, aber genauso bin ich als Mensch mit all meinen Unzulänglichkeiten ein Zeichen dafür, dass Barmherzigkeit und Güte stärker sind als das Böse, als Hass und Tod. In ihrer ganzen Menschlichkeit ist diese Erkenntnis allen Kindern Gottes gegeben, nicht nur ein paar Auserwählten. Ich habe gesiegt, aber die Spuren der Vergangenheit haben mich gezeichnet. So gesehen stellt meine Entwicklung vom Freiheitskämpfer

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