Mit den Narben der Apartheid. Michael Lapsley

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Mit den Narben der Apartheid - Michael Lapsley

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Apartheid erschlagen. Dann jedoch begann der lange Weg der Selbstheilung und des Aufbaus einer neuen Nation, in der alle Menschen die Möglichkeit haben, ihr Leben in vollem Umfang zu leben. Das ist nur möglich, wenn man nicht in der Vergangenheit gefangen bleibt.

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      Behinderung – Versehrtheit als Realität

      Es war eine Genugtuung, nach sieben Monaten das Krankenhaus in Australien zu verlassen. Ich hatte nicht nur einen Bombenanschlag überlebt und mehr Operationen überstanden als mir lieb war, sondern war auch wieder auf den Beinen und bereit, mein Leben erneut in die Hand zu nehmen. Meine Widerstandskraft überraschte viele Menschen, ich zweifelte jedoch nie. Es ging einfach darum, das medizinisch Notwendige zu tun. Obwohl meine unmittelbare Zukunft unsicher war, war ich fest davon überzeugt, dass ich eine Zukunft hatte; ich wusste nur noch nicht, wie sie sich gestalten würde. Einerseits war ich noch derselbe unabhängige und dynamische Mensch wie immer, andererseits war nun alles anders. Ohne Hände in der Welt zurechtzukommen bedeutete praktisch, noch einmal ganz von vorn anfangen zu müssen. Ich fühlte mich gleichzeitig verwundbar und zuversichtlich.

      Die nächsten Wochen und Monate entpuppten sich als Intensivkurs zur Bewältigung des Lebens mit einer schweren Behinderung. Es war ein hartes Stück Arbeit. Im Krankenhaus hatte ich immer Unterstützung gehabt, aber nun musste ich die Hilfe, die ich brauchte, selbst organisieren. Es gab furchtbar frustrierende Momente, wenn ich allein war und selbst mit simplen Aufgaben, die ich einst ohne nachzudenken erledigen konnte, nicht fertig wurde. Die Physiotherapeuten hatten mich zwar akribisch mit der Anwendung meiner Prothesen vertraut gemacht, nichts kann uns jedoch auf die unzähligen alltäglichen Herausforderungen vorbereiten, für die wir unsere Hände brauchen und deren Bewältigung körperlich unversehrte Menschen für selbstverständlich halten. Als nächstes kam die soziale Anpassung. Behinderungen rufen in vielen von uns starke Gefühle hervor, wohl weil wir dadurch mit unserer eigenen Verwundbarkeit, Zerbrechlichkeit und auch Sterblichkeit konfrontiert werden. Diese Reaktionen können, auch wenn sie unabsichtlich sind, sehr verletzend sein, besonders für jemanden wie mich, der durch sein neues Aussehen noch verunsichert war. Ein Vorfall kurz nach meiner Rückkehr nach Südafrika prägte sich mir besonders tief ein. Ich bog in einem Büro, in dem ich arbeitete, um eine Ecke und stieß fast mit einer Frau zusammen, die gerade von der Toilette kam. Als sie mein Aussehen bemerkte, schaute sie mich tief erschrocken und entsetzt an. Ich erinnere mich lebhaft an den Stich, den ihr Entsetzen auslöste, und daran, wie ich innerlich zusammenzuckte. Bei einer anderen Gelegenheit kaufte ich mit einem Freund in einem Supermarkt in Kapstadt ein. Das Einkaufen strengte mich an, und so [24]beschloss ich, draußen auf ihn zu warten. Vor dem Supermarkt setzte ich mich auf eine Bank. Ich war erstaunt, als kurz darauf eine Frau auf mich zuging und ein Geldstück aus der Tasche holte. Sie streckte es mir entgegen, weil sie mich für einen Bettler hielt. Natürlich hatte ich keine Hände, um das Geldstück entgegenzunehmen, sodass sie erst etwas herumfummelte, dann die Münze wieder einsteckte und verschwand. Solche Vorfälle hinterlassen tiefe Spuren in der Seele eines Menschen. Manchmal bringen sie uns aber auch zum Lachen. Menschen, die weitaus größere Behinderungen haben als ich, zum Beispiel spastische Lähmungen, rufen noch stärkere Gefühle hervor. Ihre Körper können sich auf unvorhersehbare Weise verdrehen, oder sie haben Schwierigkeiten beim Sprechen. In ihrem Inneren verbirgt sich jedoch ein Mensch, der den Schmerz der Abstoßung zutiefst empfindet und sich danach sehnt, dass die anderen mehr in ihm sehen als nur eine Behinderung.

      Plötzlich gehörte ich einer Minderheit an, der ich eigentlich nicht hatte beitreten wollen, und entwickelte alsbald ein Gefühl der Verbundenheit mit meinesgleichen. Ich wurde dadurch auch feinfühliger anderen Minderheiten gegenüber, die ebenfalls diskriminiert wurden. Meine Behinderung war nicht zu übersehen. Wenn man mich jemandem vorstellte, konnte ich keine Hand schütteln. Stattdessen bot ich meinen Arm an oder umarmte die Person sanft, aber auch das lenkte die Aufmerksamkeit auf meine Behinderung. Seltsam fand ich es, wenn Menschen darauf bestanden, meinen Metallhaken zu schütteln. Als körperlich unversehrter Mensch hatte ich es verstanden, wie die meisten anderen wohl auch, unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. Diese Möglichkeit gab es jetzt nicht mehr. Mit der Anonymität war es nunmehr vorbei. Sobald ich einen Raum betrat, starrten manche Menschen auf die Haken an meinen Armen, während andere sich in geradezu absurder Weise bemühten wegzuschauen. Wiederum andere versuchten ihr Unbehagen zu überwinden, indem sie zu mir eilten und mir unerbetene und unnötige Hilfe anboten. Oft denke ich an ein Prinzip meiner Ordensgemeinschaft: „Bürde anderen keine Hilfeleistungen auf, die deiner eigenen Vorstellungswelt entspringen.“

      Ich begann, meine eigenen vorgefassten Meinungen über behinderte Menschen unter die Lupe zu nehmen. War ich ihrem Schmerz gegenüber blind gewesen? Hatte ich sie verdinglicht? Als ich tiefer grub, merkte ich beschämt, dass sich meine mangelnde Sensibilität schon in meiner eigenen Familie ausgewirkt hatte. Meine Beziehung zu meinem älteren Bruder Peter war schon immer etwas problematisch gewesen. Er stotterte, während ich als Jugendlicher meine frühreife Religiosität im Brustton der Überzeugung zum Ausdruck brachte. Ich war ausgesprochen wortgewandt, und so fiel es mir in Wortgefechten sehr viel leichter zu punkten als Peter, der damit Schwierigkeiten hatte. Ich sehe jetzt ein, dass ich seine Schwäche auf unfaire Weise ausnutzte, was sicherlich zu unserer distanzierten Beziehung beigetragen hat. Selbstverständlich können Behinderte den Spieß auch umdrehen, indem sie [25]ihre Behinderung gezielt benutzen, um besondere Gefälligkeiten zu erwirken. Nach einem langen, anstrengenden Tag ist es nur allzu einfach, einen Freund zu fragen: „Könntest du dies für mich tun?“, auch wenn ich „dies“ mit etwas mehr Mühe auch selbst erledigen könnte. Außerdem gibt es Tätigkeiten, die mich eine größere Anstrengung kosten würden und die ich grundsätzlich nicht selbst verrichte, wie den Geschirrspüler einräumen, beim Kochen helfen und mein Gepäck tragen. In diesen Momenten denke ich dann: „Naja, eine Behinderung muss ja auch Vorteile haben.“ Schuldgefühle können auch als Waffe benutzt werden, um Menschen zu bestrafen, die auf unsere Ansprüche nicht eingehen. Genauso kann uns die Bewunderung anderer Menschen zu Kopf steigen – verführerisch und zugleich spirituell riskant. Diese gefährlichen Tücken, die Behinderungen mit sich bringen, verleiten uns dazu, in der Opferrolle zu verharren, und können die Beziehungen zu Familie und Freunden zerstören.

      Wenn ich gefragt werde, wie meine Hände funktionieren, antworte ich normalerweise, dass sie von Glauben und Hoffnung geführt werden. Mechanisch gesehen sind sie aber mit meinen Schultern verbunden. Wenn ich meine Schulter auf eine bestimmte Weise bewege, öffnen sich die Haken, wenn ich die Schulter anders bewege, öffnen sie sich nicht. Sie sind also fein eingestellte Instrumente, auch wenn sie nicht danach aussehen. Ich kann sogar tippen und Auto fahren. Was ich machen oder nicht machen kann, ist oft nicht vorhersehbar. Es ist für mich zum Beispiel einfacher, Auto zu fahren, meinen Laptop oder mein Handy zu benutzen, als meinen obersten Hemdknopf aufzumachen. Kurz nach meiner Rückkehr nach Südafrika lud mich Erzbischof Tutu zum Abendessen ein. Ich lernte damals noch den Umgang mit meinen Prothesen. Wenn ich zum Beispiel mit dem rechten Haken eine Tasse hielt und gleichzeitig versuchte, mit dem linken etwas anderes zu tun, konnte es durchaus geschehen, dass die Tasse zu Boden fiel. Als Tutu mir dann Kaffee eingoss, rutschte die Tasse prompt weg, und der Kaffee ergoss sich über den Erzbischof. Er fragte mich, ob ich nach Hause wollte, aber ich erwiderte, dass mir eine zweite Tasse Kaffee lieber wäre.

      Jede Behinderung hat ihre Besonderheiten. Dies kann man bei Einrichtungen für Behinderte am besten beobachten. Vor einigen Jahren nahm ich an einer Tagung in einem neuen Konferenzzentrum in Johannesburg teil. Die Gastgeber schienen außergewöhnlich erfreut über mein Erscheinen. Ich konnte ihre Begeisterung nicht begreifen, bis sich herausstellte, dass das neue Gebäude mit einer behindertengerechten Suite ausgestattet war. Mit großem Trara führten sie mich dorthin. Ich schaute mich darin um und fand die Suite ziemlich gewöhnlich – ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank, also nichts, was man mit einer Behinderung in Verbindung bringen würde. Dann zeigten sie mir das Bad – das einzig Außergewöhnliche war eine Handdusche! Die Designer hatten offensichtlich nicht

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