Die »Ereignismeldungen UdSSR« 1941. Группа авторов
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Aufgrund der Zusammensetzung der Einsatzgruppen ist die Annahme berechtigt, daß nicht alle Mitglieder sich als Teil einer „Truppe des Weltanschauungskrieges“ verstanden und statt dessen das Motivationsspektrum von notdienstverpflichteten Reservisten über abenteuerlustige Trittbrettfahrer des „Osteinsatzes“ bis hin zu fanatisierten Anhängern der NS-Ideologie und einheimischen Helfern reichte, die mit ihren Nachbarn eine Rechnung begleichen oder die Schmach der vorangegangenen sowjetischen Besatzung wettmachen wollten. Was das Leitungspersonal der Einsatzgruppen angeht, sollte ihre Schlüsselrolle beim Genozid an den Juden nicht dazu verleiten, wie Michael Wildt warnte, sie „gewissermaßen als Negativauslese“ oder mit Gerald Reitlinger als „seltsam zusammengewürfelten Haufen von Halbintellektuellen“ zu betrachten, dem der Massenmord aufgrund ihrer brutalen Veranlagung leicht fiel.83 Zwischen intellektueller Ausstattung und moralischem Handeln besteht bekanntlich keine unlösbare Verbindung. Tatsächlich handelte es sich bei den Führern um Angehörige einer Funktionselite, deren Bildung, Fähigkeiten und Zukunftspotential sie in den Augen der SS-Führung, aber auch in ihrer Selbstwahrnehmung, für Leitungsfunktionen in Schlüsselbereichen der NS-Politik besonders befähigte. Die von diesen Männern mitgestalteten EM vermitteln einen Eindruck davon, wie nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ menschliche Möglichkeit zur mörderischen Wirklichkeit wurde.
Das Fehlen eindeutiger schriftlicher Weisungen und besonders die schwammigen Formulierungen in Heydrichs Schreiben an die HSSPF vom 2. Juli 1941 sorgten in der Nachkriegszeit für anhaltende Debatten über die Befehlslage bei den Einsatzgruppen zu Beginn des „Unternehmens Barbarossa“.84 Kaum eine Darstellung zum Vernichtungskrieg verzichtet darauf, Heydrichs Rede vor den versammelten Einsatzgruppenführern in der Grenzpolizeischule Pretzsch wenige Tage vor dem 22. Juni zu behandeln, in der er den Nachkriegsaussagen einiger Offiziere zufolge einen Judenvernichtungsbefehl Hitlers erwähnt haben soll. Andere Anwesende wiederum schrieben die Befehlsübermittlung dem Chef des RSHA-Amts I, Bruno Streckenbach, zu, während andere einen solchen Befehl in Pretzsch und auch für einige Zeit danach nicht gehört haben wollten. Die Minderheitsmeinung, besonders beharrlich vorgetragen von Erwin Schulz, dem Leiter der Sipo-Führerschule in Berlin-Charlottenburg, designierten Führer des Einsatzkommandos 5 und späteren RSHA-Amtschef I, scheint die verlässlichere, ging es der von Otto Ohlendorf im Nürnberger „Fall 9“ auf Linie gebrachten Mehrheit mit der Behauptung einer klaren, auf Massenmord an den sowjetischen Juden abzielenden Befehlsgebung doch darum, sich selbst als Angeklagte vor alliierten oder deutschen Gerichten zu entlasten.85 In der Forschung dominierte die Annahme eines unterschiedslosen Judenvernichtungsbefehls, der den Einsatzgruppen vor Feldzugsbeginn in der einen oder anderen Form übermittelt wurde, bis in die 1990er Jahre. Dissidenten wie der langjährige Leiter der Zentralen Stelle Ludwigsburg, Oberstaatsanwalt Alfred Streim, stießen bei etablierten Zeitgeschichtlern auch dann noch auf Skepsis, als sich die Haltlosigkeit anderslautender Aussagen ehemaliger Einsatzgruppenangehöriger erwiesen hatte und Quellen der NS-Zeit immer stärker nahelegten, „daß die Kommandos ihren Spielraum von Anfang an extrem ausnutzten, ihn zunehmend überdehnten und somit die Befehlslage hinter sich ließen“.86
Natürlich ist es wichtig zu wissen, inwieweit Hitler, Himmler und Heydrich die Aktionen der Einsatzgruppen direkt beeinflußten. Die für die Forschung zum Massenmord an den europäischen Juden lange Zeit dominierende, bis heute nicht ganz überwundene Obsession, eindeutige, gar schriftlich fixierte Anweisungen der Führungsspitze zu finden, zielt indes ins Leere: zum einen, weil es solche Weisungen nur in Ausnahmefällen gab; zum anderen, weil der Nationalsozialismus nicht nach der simplen Mechanik von Befehl und Gehorsam funktionierte, sondern eine stark von der Peripherie vorangetriebene Radikalisierungsdynamik erzeugte.87 Dies zeigen Heydrichs Schreiben an die HSSPF vom 2. Juli 1941 ebenso wie der zitierte Bericht des Tilsiter Stapo-Leiters Böhme darüber, wie sich Himmler und Heydrich über die ersten Exekutionen jenseits der deutsch-litauischen Grenze unterrichten ließen. Warum sollten beide große Planungssorgfalt in die Auswahl ihrer Kommandoführer investieren, wenn sie sie nach Kriegsbeginn an der kurzen Leine halten wollten? Welche konkreten Befehle konnte die Berliner Zentrale sinnvoll erteilen in rasch wechselnden, im Vorfeld nicht vorhersehbaren Situationen, die zudem von örtlichen Faktoren beeinflußt wurden? Flexible Richtlinien, operative Handlungsfreiheit und grobe, ideologisch überformte Zielvorgaben waren vielmehr das, was die Einheitsführer von der Spitze erwarteten und auch bekamen: „Mit ihrer im Prozeß der Selbstermächtigung kulminierenden Interpretationsleistung schufen die Kommandoführer Fakten, hinter denen die Regimespitze weder zurückbleiben konnte noch wollte.“88 Den Einheitsführern gegenüber blieb der Zentrale nur noch Billigung, Lob oder – sofern die Entwicklung vor Ort in die falsche Richtung zu tendieren schien – Tadel.
Vor Beginn des „Unternehmens Barbarossa“ gab es daher wenig, was die SS-Spitze den Einsatzgruppenangehörigen mitzuteilen hatte.89 Es scheint einigermaßen gesichert, daß die in Pretzsch sowie in den benachbarten Orten Düben und Bad Schmiedeberg zusammengezogenen Männer neben dem Abhalten von Gelände- und anderen Übungen mit der „Sonderfahndungsliste UdSSR“ aus dem RSHA vertraut gemacht wurden. Ob sie dort allerdings auch Kenntnis des „Kommissarbefehls“ und des „Gerichtsbarkeitserlasses“ der Wehrmacht erhielten, läßt sich nicht eindeutig belegen.90 Aus der Rückschau spielte für die Tätigkeit der Einsatzgruppen die teilweise auf veralteten oder falschen Informationen beruhende Fahndungsliste eine unbedeutende Rolle. Das Gegenteil gilt allerdings für die zu Recht so bezeichneten „verbrecherischen Befehle“. Wie Hans Mommsen feststellte, ließen sich die Judenmorde in der besetzten Sowjetunion „unter dem Vorwand der Sicherung des rückwärtigen Kampfgebietes als unerläßlicher Bestandteil des von Hitler von vornherein als Vernichtungskrieg deklarierten Rußlandfeldzuges kaschieren“, wofür „Kommissarbefehl“ und „Gerichtsbarkeitserlaß“ die beste Voraussetzung boten.91 Die Akzeptanz einer derartigen Legitimation beruhte allerdings weniger auf der Kenntnis der „verbrecherischen Befehle“ als „auf einem tradierten, fest verankerten Konsens, einem Konglomerat ideologisch geprägter, sich wechselseitig stützender Axiome“ mit dem Phantom des „jüdischen Bolschewismus“ im Mittelpunkt.92 Die EM, deren thematische und stilistische Merkmale im folgenden Abschnitt eingehender analysiert werden, demonstrieren diesen Konsens und seine Folgewirkungen in besonderer Deutlichkeit.