Golf von Neapel Reiseführer Michael Müller Verlag. Andreas Haller
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Die wilde und leidenschaftliche Seite der Lazzaroni kam u. a. bei den großen Festivitäten zur Entfaltung, allen voran bei der jährlichen Blutsverflüssigung des hl. Gennaro. Ein weiteres wichtiges Ereignis war die Cuccagna, wo v. a. (aber nicht nur) Kinder auf einen „Schlaraffenbaum“ (albero della cuccagna) kletterten, um eine oben befestigte Speise herabzuholen. Der bourbonische König Ferdinand IV. galt bis zum Beginn der Französischen Herrschaft auch als Re Lazzarone. Der „Lazzaroni-König“ machte sich nicht selten mit dem Volk gemein und trieb diese proletarischen Spielchen auf die Spitze.
Phrygische Mütze:Ölgemälde im Palazzo Reale
Schließlich veränderte der zunehmende motorisierte Straßenverkehr das Gesicht der Stadt: Staus zur Rushhour gehören zum gewohnten Bild, derweil die neue Metro die Verkehrsströme unter die Erde verlegte. Krisen gehörten auch in der 2. Hälfte des 20. Jh. zum gewohnten Bild: 1972/73 wütete eine verheerende Choleraepidemie. Die Seuche forderte über 20 Menschenleben und bedeutete einen herben Rückschlag für die touristische Entwicklung Süditaliens. 2007 hielt die Müllkrise die Region in Atem. Müllhaufen verpesteten tage- und wochenlang die Straßen der Stadt und legten strukturelle Mängel bloß − es fehlte an Müllverbrennungsanlagen, illegale Deponien waren ein gefundenes Fressen für die örtlichen Camorra-Clans (→ Link), die sich an der Notlage bereicherten. Andererseits erlebte die Stadt durchaus erkennbare Fortschritte: Besonders unter dem Linksdemokraten Antonio Bassolino, der zwischen 1993 und 2000 als Bürgermeister die Geschicke der Stadt am Golf lenkte, erlebte Neapel eine wirtschaftliche, soziale und städtebauliche Renaissance. Die ansprechend gestaltete Uferpromenade zwischen der Piazza del Plebiscito und Mergellina geht u. a. auf seine Initiative zurück.
Neapel besichtigen
Hinsichtlich der Zahl an Sehenswürdigkeiten nimmt Neapel unbenommen einen Spitzenrang unter den europäischen Metropolen ein. Dazu gesellen sich diejenigen Attraktionen, die gegenwärtig nicht zugänglich sind − Baudenkmäler, an denen der Zahn der Zeit nagt und die dem vielerorts grassierenden Verfall anheimgegeben sind. Weil das Geld für die Restaurierung fehlt, werden die betreffenden Denkmäler kurzerhand geschlossen (→ Kasten). Die meisten Attraktionen liegen in der Altstadt und sind bequem zu Fuß vom Hauptbahnhof (Napoli Centrale) erreichbar. Auch die Sehenswürdigkeiten links und rechts der Via Toledo zwischen Piazza Dante und Piazza del Plebiscito werden am besten zu Fuß oder alternativ mit der Metrolinie 1 angesteuert. Gleiches gilt für das am Altstadtrand gelegene Archäologische Nationalmuseum (Linie 1 und 2). Wer indes einen größeren Radius wählt und sich für die Sehenswürdigkeiten auf den Hügeln sowie in der Peripherie interessiert, sollte am besten auf öffentliche Nahverkehrsmittel zurückgreifen. Eine Besonderheit sind die Standseilbahnen (funiculari), die an verschiedenen Stellen das Zentrum mit luftig gelegenen Aussichtspunkten auf den Hügeln verbinden. Die Fahrt allein ist bereits ein für jedermann erschwingliches Erlebnis!
Sehenswertes zwischen Hauptbahnhof und Dom
Das Bahnhofsviertel ist nicht gerade ein Vorzeigequartier − das verbindet die Stadt am Golf mit zahlreichen anderen Metropolen. Unglücklicherweise entpuppt es sich als das Stadtviertel, das Neuankömmlinge als Erstes zu Gesicht bekommen: Klischees einer dreckigen, chaotischen, lauten und vielleicht sogar unsicheren Metropole scheinen sich umgehend zu bestätigen, wobei der Bahnhofsvorplatz (Piazza Garibaldi) nach einem aufwändigen Facelifting die Vorurteile ausnahmsweise Lügen straft. Die moderne Shoppingpassage mit dem Zugang zur Metro ist vom Feinsten, der Individualverkehr wurde eingeschränkt, wovon die zahlreichen Gästehäuser und Hotels am Bahnhofsplatz profitieren.
Zwischen Hauptbahnhof und Altstadt liegen ärmlich wirkende Wohnquartiere mit nur geringer Aufenthaltsqualität, in denen zunehmend Migranten aus vieler Herren Länder den Ton angeben. Einzig der breite Corso Umberto I, der das Bahnhofsviertel mit dem Stadtzentrum verbindet, macht eine Ausnahme und bietet Neuankömmlingen die Option, schnurstracks die „besseren Gegenden“ der Stadt anzusteuern. Auf der anderen Seite versäumt man auf diese Weise das eine oder andere Juwel, das den Besuch lohnt: die Gemäldegalerie im Gebäude der sozial engagierten Bruderschaft Pio Monte della Misericordia, die grandiose Chiesa San Giovanni a Carbonara oder auch diverse Sehenswürdigkeiten hinter dem Dom, z. B. das Museum MADRE und das Kirchenschatzmuseum mit den zwei Kirchen Santa Maria Donnaregina. Weiteres Highlight ist der Fischmarkt, auf dem sieben Tage in der Woche eine hektische Betriebsamkeit herrscht.
Chiesa Santa Maria Donnaregina Nuova
Ein ganz besonderes Stadtviertel ist die „Gabel“ (forcella): Gleich einer Astgabel bilden hier die Gassen ein „Y“. Wegen der Camorra mieden einst Stadtführer das Quartier und nahmen auf dem Weg zum Dom lieber einen Umweg in Kauf. Heute scheint die Gefahr, wenn je eine bestanden hat, vorbei. Interessantestes Bauwerk hier ist ein ehemaliges Hospiz und Waisenhaus, das als Sammelbecken für Kinder diente, die von ihren Eltern ausgesetzt wurden. Aus der Not heraus bzw. aus Mangel an besserem Wissen erhielten sämtliche Waisenkinder den Einheitsnamen Esposito („Ausgesetzter“ bzw. „Ausgesetzte“). Noch heute hören auffallend viele Neapolitaner auf den Nachnamen „Esposito“ ...
Porta Nolana (Fischmarkt)
Direkt an der Endhaltestelle gleichen Namens der Circumvesuviana-Vorortbahn gelegen, ist das Stadttor aus dem 15. Jh. häufig das erste Bauwerk, das Tagesbesucher von Neapel zu sehen bekommen. In der frühen Neuzeit führte durch das robust gemauerte Tor die Ausfallstraße nach Nola. Direkt dahinter verbreitet der Fischmarkt Atmosphäre und Flair − und versorgt nebenbei die örtliche Gastronomie an sieben Tagen in der Woche mit frischen Muscheln und Meeresfrüchten. Außerdem gibt es hier Obst, Gemüse, Kleidung und CDs.
Stadtrundgang: Kurzvisite − Neapel an einem Tag
Startpunkt des Rundgangs ist die Piazza Garibaldi mit dem Hauptbahnhof. Vom jenseitigen Ende des Platzes biegen Sie, mit dem Rücken zum Bahnhof, halblinks in den Corso Umberto I ein. Danach folgen Sie der Straße, die das Bahnhofsviertel mit der repräsentativen Neustadt verbindet, bis zur achteckigen Piazza Nicola Amore. Hier halten Sie sich rechts und laufen auf der Via Duomo zum Dom San Gennaro (→ Link).
Nach der Dombesichtigung geht es auf besagter Via Duomo ein kurzes Stück zurück, bis die Via Tribunali rechts abzweigt. Bei der belebten Altstadtgasse handelt es sich faktisch um die antike Hauptstraße (decumanus maximus), wobei in der griechischen Epoche das Straßenniveau deutlich tiefer lag. Nach 250 Metern markiert eine Kreuzung mittelalterlicher Gassen, die Piazza San Gaetano, die Lage des einstigen antiken Forums (→ Link). Die unscheinbare Kreuzung ist das Herz der mittelalterlichen Altstadt Neapels. Von hier kann man in den in den Bauch der Stadt absteigen (Napoli Sotterranea) oder den Komplex San Lorenzo Maggiore mit den Überresten der griechischen Stadt erkunden.
Zentral: